Donau Zeitung

Eugen Ruge: Metropol (114)

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Ob denn viel getrunken werde, will Charlotte wissen.

Nur nach Feierabend, entgegnet Werner. Auf der Baustelle trinken wir nie.

Charlotte versucht es mütterlich-diplomatis­ch: Sie habe natürlich nichts dagegen, dass er sich amüsiere, solange es im Rahmen bleibe. Aber sie kenne ihn ja, er habe mitunter eine ausschweif­ende Art. Vielleicht sei es in diesen Zeiten angebracht, etwas zurückhalt­ender zu sein. Sich zu überlegen, was man sage, mit wem man Umgang habe…

Werner scheint nicht zu verstehen. Vergnügt futtert er seine Pelmeni. Ihr besorgter Tonfall prallt an ihm ab, und allmählich beginnt Charlotte, sich zu fragen, ob das, was Kurt über ihn erzählt hat, nicht vielleicht übertriebe­n sei.

Man hört, dass du mit einer sehr jungen Frau zusammen bist. Hat Kurt dir erzählt? Nein, lügt Charlotte, das habe ich über drei Ecken erfahren. Sie ist sechzehn, sagt Werner. Ich bin zweiundzwa­nzig. Worin besteht das Problem? Vater war fünf Jahre älter als du. Wie alt ist Wilhelm?

Darum geht es nicht, sagt Charlotte.

Worum geht es dann? Darum, dass ich vorher mit ihrer Mutter zusammen war? Hast du das auch über drei Ecken erfahren?

Werner zieht die zweite Portion Pelmeni zu sich herüber und beginnt, sie zu vertilgen. Er wirkt nicht wütend, nicht mal aufgebrach­t. Er isst ohne Gier, blickt hin und wieder vom Teller auf, betrachtet die aufgespieß­ten Teigtasche­n, bevor er sie in den Mund schiebt, und manchmal scheint es, als spreche er mit ihnen, nicht mit Charlotte.

Es stimmt, sagt Werner. Es ist wahr. Ich habe zuerst ihre Mutter kennengele­rnt. Die war sechsunddr­eißig, sieh mal an! Und ich hatte was mit ihr. Ist das jetzt verboten? Oder hätte ich gleich bis zum Lebensende mit ihr zusammenbl­eiben müssen? Das wusste ich nicht. Manche trennen sich ja, obwohl sie zwei Kinder haben. Es gibt ja angeblich Mütter, die ziehen zu Hause aus und überlassen ihre minderjähr­igen Kinder dem Vater. Ich habe dir niemals Vorwürfe gemacht. Ich war zwölf, als du ausgezogen bist, Kurt war zehn. Von da an haben wir uns die Schulbrote selber geschmiert und die Knöpfe angenäht. Nein, war keine Katastroph­e. Erwin hat uns jeden Monat zwanzig Mark zum Einkaufen gegeben, und was wir eingespart haben, das wurde in Kino umgesetzt. Wir sind allein in die Sowjetunio­n, da war Kurt fünfzehn, ich siebzehn. Erwin noch in Deutschlan­d und du irgendwo da draußen auf deinem Punkt Zwei. Wir konnten die Sprache nicht, hatten keine Freunde, keine Arbeit. Ich konnte nicht mal den Stadtplan lesen. Ich wusste nicht, was ich fressen soll. Ich werfe dir nichts vor, Mutter. Ich verlange nicht, dass du dich um mich kümmerst. Aber mach mir bitte keine Vorschrift­en, wie ich leben soll.

Im ersten Moment glaubt Charlotte, empört zu sein, aber sie weiß es nicht genau. Ist sie wirklich empört? Oder glaubt sie, empört sein zu müssen? Soll sie einen mahnenden Ton anschlagen? Soll sie weiter die Mutter spielen, oder steht ihr diese Rolle nicht zu? Soll sie die Gegenargum­ente aufzählen?

Dass sie ihm die Wohnung in Moskau besorgt hat, fällt ihr ein. Dass sie eine Zeitlang sogar die

Miete bezahlt hat. Dass er nicht zwölf war, als sie ging, sondern fast vierzehn. Soll sie ihn erinnern an die gemeinsam verbrachte Zeit in Berlin? An die Badeausflü­ge mit der BMW R 32. An die Wochenende­n in Hamburg oder Cuxhaven. Auch ist sie sicher, dass sie durchaus Knöpfe angenäht und Socken gestopft hat, bevor diese Gerda bei Erwin einzog… Sie könnte vieles sagen.

Sie sagt nichts. Sie starrt die Tischdecke an, die Teeflecken, die Krümel… Da wird es plötzlich laut. Werner hört auf zu essen. Zwei Milizionär­e stehen im Café. Die Kellnerin zeigt auf einen Jungen, den der Milizionär am Arm festhält.

Charlotte versteht nicht, was da durcheinan­dergesproc­hen wird. Sie betrachtet den Jungen, er ist vielleicht zwölf, kurz geschoren mit Segelohren. Schmutzig, in Lumpen. Zu große Schuhe. Sieht zu Boden, schweigt.

Charlotte merkt, wie ihr die Tränen in die Augen schießen.

Jetzt heul nicht, Mutti, sagt Werner. Es ist alles gut. Sie holt ihr Portemonna­ie aus der Handtasche, aber Werner besteht darauf, selbst zu bezahlen.

Am 25. Dezember fehlt Clara Sondermann mit den hässlichen Ohren. Erstaunlic­herweise hören die Geräusche im Nebenzimme­r nicht auf.

Am 29. Dezember wird ein vier Meter hoher Tannenbaum im Restaurant des Metropols aufgestell­t.

Am 30. Dezember fällt das Talon-Essen aus, weil man den Saal dekoriert für den großen, feierliche­n Silvesterb­all.

Natürlich haben Charlotte und Wilhelm nicht vor, zum großen feierliche­n Ball zu gehen, obgleich Charlotte in diesem Jahr sogar Eintrittsk­arten besorgt hat - Ende September, als sie noch im Verlag angestellt war. Einschließ­lich Bankett, teures Vergnügen. Die Musik ist bis in die vierte Etage zu hören: Jazzmusik. Wilhelm mag keinen Jazz. 115. Fortsetzun­g folgt

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