Das neueste dunkle Kapitel
Ausgerechnet Kapitän Harry Kane schreibt Englands furchtbare Elfmetergeschichte bei der WM in Katar fort. Sein Trainer leidet mit ihm. Er dürfte wissen, wie sich der Stürmer fühlt.
Al Khor Vermutlich hätte sich Harry Kane gewünscht, dass die Stadionregie kurz am Regler für die Lichter spielt. Modernste Beleuchtung macht es ja in katarischen Prachtbauten möglich, in Sekundenschnelle zwischen hell und dunkel zu wechseln. Das passiert im Vorlauf, wenn um einen riesigen Goldpokal viel Feuer ausgespuckt oder in der Halbzeitpause noch eine Show aufgeführt wird. Das Publikum jauchzt dann meist vor Freude. Nach dem großartigen Viertelfinale zwischen Frankreich und England wäre es angemessen gewesen, im Al Bayt Stadium auch noch mal kurz alles zu verdunkeln. Und den im Niemandsland neben dem Anstoßkreis kauernden Kapitän Englands mal mit seiner Trauer alleine zu lassen.
Die Hände hatte Kane längst vor den Kopf gepresst, in der Hocke ging der Blick nach unten. Trost spenden konnte zunächst niemand. Torhüter Jordan Pickford war gescheitert, den Torjäger mannhaft aufzurichten – dafür wollte er dann die Kameraleute weghalten. Aber es gehört zu einer WM dazu, dass auch die Verlierer in vollen Luxzahlen ausgeleuchtet werden. Auch diejenigen, die es eigentlich nicht verdient haben. Aber seit wann ist der Fußball gerecht?
Ein kantiger Mittelstürmer, der bei dem Turnier der Welt gezeigt hatte, dass er auf einer hängenden Position sehr ordentlich mit dem Ball umgehen, selbst schlaue Pässe spielen kann, die ihn als klugen Strategen auswiesen, hatte zunächst sehr nervenstark einen ersten Strafstoß zum 1:1 verwandelt (54.). Den zweiten wollte Kane genauso schießen. Wieder den Rücken gebeugt, der Anlauf schräg – doch flog die Kugel so hoch in den Himmel wie eine Rakete zu Silvester (84.). Das Elfer-Trauma bei WM und EM reicht nun von 1990, 1996, 1998, 2004, 2006, 2012, 2021 bis 2022. Eine Never Ending Story.
Teamchef Gareth Southgate kletterte mit geradem Rücken aufs Podium der Pressekonferenz. „Wir gewinnen als Mannschaft und wir verlieren als Mannschaft. Er ist der beste Schütze.“Wenn er morgen erneut entscheiden müsste, würde er wieder Kane schießen lassen, beteuerte der 52-Jährige, der ungeachtet des Ausscheidens in Katar viel richtig gemacht und auch die nicht-sportlichen Themen irgendwann beiseite geräumt hatte. Der Falsche wäre er, wenn es darum ginge, den Fluch vom Elfmeterpunkt zu besiegen. Sein Fehlschuss im EM-Halbfinale 1996 gegen Deutschland spielt immer mit. Und die Fehlbesetzungen aus dem EM-Finale 2021 gegen Italien, als die Jungspunde Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka unter der Last der Verantwortung zusammenbrachen, fielen in seinen Verantwortungsbereich.