Donau Zeitung

Zwischen Maradonas Erbe und Schimpftir­aden

Die Brücke zwischen Maradona und Lionel Messi ist gebaut, um Argentinie­n mit dem dritten WM-Titel zu beschenken. Doch Messi sollte nicht noch einmal den Wutbürger spielen.

- Von Frank Hellmann

Doha Die Dirigenten­rolle ist nicht neu für Lionel Messi. Aber dass er selbst ein Fußballlie­d anstimmt, in dem er die Hauptrolle besetzt, geschieht erst in Katar. „En Argentina nací, tierra de Diego y Lionel“. So geht es immer los. „In Argentinie­n wurde ich geboren, im Land von Diego und Lionel.“Die folgenden Verse sind in Windeseile zur inoffiziel­len Nationalhy­mne eines Landes geworden, für das es bei der Weltmeiste­rschaft in Katar um mehr als Fußball geht. Nach 1978 und 1986 den Goldpokal zu empfangen, würde Freude und Würde, Stolz und Ablenkung bringen – und Messi endlich, endlich auf eine Stufe mit Maradona stellen.

Der vor zwei Jahre verstorben­e Nationalhe­ilige ist immer noch da, sonst hätten beim Viertelfin­aldrama gegen die Niederland­e (4:3 nach Elfmetersc­hießen) nicht wieder so viele Banner mit dessen Konterfei gehangen. Die argentinis­che Armada hätte sie eigentlich im Lusail-Stadium übers Wochenende hängen lassen können, denn auch das Halbfinale gegen Kroatien (Dienstag 20 Uhr) steigt in dem Tempel, der von draußen golden leuchtet, aber drinnen hellblau strahlt, wenn Argentinie­n hier antritt. Dieses inoffiziel­le Heimstadio­n muss stimmungsm­äßig den Vergleich mit der „Bombonera“von Buenos Aires nicht mehr scheuen. Nicht nur in Lusail, sondern überall in Doha ist an den argentinis­chen Feiertagen der Text zu hören, den Fernando Romero im September 2021 aus einer Laune heraus über die Klänge von „Muchachos“von La Mosca gelegt hat. Keine Version drang so schnell und so tief in die argentinis­che Seele ein.

Als der Erfinder, ein einfacher Fan, die ersten Bilder sah, dass auch Messi mitsang, brach er in Tränen aus. Weil sein Lied die Kraft von den Rängen auf den Rasen transporti­ert. Wer den Kapitän Messi in der Nacht zu Samstag voller Inbrunst springen und singen sah, erst im Kreis der Kollegen, dann vor der Kurve, der spürte, wie die Musik jetzt alles verbindet. Himmel und Erde. Maradona und Messi. Der Weltstar hat in der Nacht zu Samstag selbst diese Brücke von der lebenden Ikone zu der verstorben­en Legende beschriebe­n. „Diego schaut auf uns herab. Er drängt uns, immer weiterzuma­chen. Er hilft uns von oben, und wir hoffen, dass es bis zum Ende so bleibt.“

Der 35-Jährige sagte das mit ruhiger Stimme in der Pressekonf­erenz. Der Genius, der gegen die Niederland­e mit seinem zehnten WM-Tor nun Gabriel Batistuta einholte und gegen die Kroaten bei seinem 25. WM-Einsatz mit dem Rekordspie­ler Lothar Matthäus gleichzieh­en kann, hatte zuvor geduscht und sicher auch kaltes Wasser über seine tätowierte Haut laufen lassen. Denn trotz einer auf Hochtouren laufenden Klimaanlag­e konnte zuvor niemand die aufgeheizt­en Gemüter beruhigen.

Selbst Messi mutierte – wie einst Maradona – zur Furie, die Verschwöru­ng witterte. Er will offenbar jetzt überall vorangehen. Auch bei Beschwerde­n und Protesten.

Argentinie­ns zornige Nummer zehn richtete dem Bondscoach Louis van Gaal – der zuvor über Messis nicht existentes Defensivve­rhalten gesprochen hatte – aus, dass er nicht so viel quasseln sollte. Als er sich in Richtung van Gaal aufbaute, um die Ohren mit den Händen zu vergrößern, wusste er natürlich, welche Wirkung diese Bilder entfalten würden. Er verspürte auf den Doppeltors­chützen Wout Weghorst einen derartigen Groll, dass er ein Fernsehint­erview unterbrach. „Was guckst du so, Dummkopf?“, giftete der Kleine in Richtung eines Riesen, dessen Name er nicht kannte: „Die Nummer 19 von ihnen, die reinkam und gleich begann zu provoziere­n.“Und er zog über Schiedsric­hter Antonio Mateu Lahoz her, der ihn 2020 in seiner Zeit beim FC Barcelona dafür verwarnte, dass er zu Ehren Maradonas ein Trikot der Newell’s Old Boys zeigte.

Ein Weltstar als Wutbürger. Die globale Strahlkraf­t der Figur ist allerdings zu groß, um darüber einfach hinwegzuge­hen. Zu oft sollte so einer seine Vorbildwir­kung nicht mit Füßen treten, nur weil er so etwas wie Majestätsb­eleidigung empfindet. Insgesamt war es wenig würdevoll, was Messi und Mitspieler an Provokatio­nen einstreute­n, die mit Gehässigke­iten und Gemeinheit­en durchsetzt waren. Der von Leandro Paredes in die niederländ­ische Bank gebolzte Ball oder die höhnische Geste von Nicolás Otamendi standen an der Spitze der Entgleisun­gen. Selbst mit der Rekordzahl von 17 Gelben Karte und einer Gelb-Roten Karte konnte dieses Gift und Galle spuckende Duell nicht beruhigt werden. Die Fifa hat nun angekündig­t, gegen den argentinis­chen und niederländ­ischen Verband Ermittlung­en einzuleite­n. Richtig so. Aber auch das Auftreten des spanischen Spielleite­rs mit seiner unerträgli­chen Theatralik müsste Konsequenz­en haben.

Die Dramaturgi­e tat ein Übriges, weil zittrige Argentinie­r ihren 2:0-Vorsprung nicht durchbrach­ten. Daher besetzte Emiliano Martinez die Heldenroll­e. Der tüchtige Torhüter, den alle nur „Dibu“nennen, spannte seinen Körper wie auf der Streckbank, um gegen Virgil van Dijk und Steven Berghuis zu parieren, was ans Elfmetersc­hießen im Halbfinale der Copa América gegen Kolumbien erinnerte. Vor einem Jahr hatte der 30-Jährige die Gegner mit markigen Sprüchen verwirrt, was wegen der Geisterspi­ele jeder verstehen konnte. Diesmal ging das vor einer tobenden Menge mit 88.000 Menschen natürlich nicht. Das Ergebnis blieb dasselbe. „Wir haben das für 45 Millionen Argentinie­r gemacht“, sagte Matchwinne­r Martinez. „Unserem Land geht es wirtschaft­lich so schlecht. Ein kleines bisschen Freude.“

Nur Nationaltr­ainer Lionel Scaloni schaute am Ende traurig aus. „Ich möchte den Menschen in Pujato eine innige Umarmung schicken“, betonte der 44-Jährige, der aus dem kleinen Ort in der Provinz Santa Fe stammt. Dort waren am Tag des Viertelfin­als ein junger Mann bei einem Autounfall ums Leben gekommen und einer schwer verletzt worden. „Was ein Tag der Freude werden sollte, endet mit Trauer“, sagte Scaloni – und bevor er vor aller Öffentlich­keit in der Pressekonf­erenz weinte, stand er gegen 2.30 Uhr auf und ging. Zurück blieb ein Potpourri der Emotionen. Dass sich das im Halbfinale gegen Kroatien alles noch steigern lässt, erscheint gerade schwer vorstellba­r.

 ?? ?? Verdiente Gewinner sind nicht immer gute Gewinner. Die Argentinie­r verhöhnten nach dem Sieg im Elfmetersc­hießen die Holländer, die erst durch zwei späte Treffer Verlängeru­ng und Elfmetersc­hießen erzwungen hatten. Foto: Thanassis Stavrakis, dpa
Verdiente Gewinner sind nicht immer gute Gewinner. Die Argentinie­r verhöhnten nach dem Sieg im Elfmetersc­hießen die Holländer, die erst durch zwei späte Treffer Verlängeru­ng und Elfmetersc­hießen erzwungen hatten. Foto: Thanassis Stavrakis, dpa
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Foto: Peter Byne, dpa Lionel Messi baute sich vor Louis van Gaal auf.

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