Donau Zeitung

Da sprudeln die Gelder wie frisches Blut

Wie konnte es mit Russland nur so weit kommen? Der Schriftste­ller Dmitry Glukhovsky macht sich in seinen „Geschichte­n aus der Heimat“auf Spurensuch­e.

- Von Lilo Solcher > Dmitry Glukhovsky: Geschichte­n aus der Heimat. Heyne, 445 S., 24 €.

Nein, diese 20 Erzählunge­n, die der inzwischen in Berlin lebende russische Schriftste­ller Dmitry Glukhovsky in dem Buch „Geschichte­n aus der Heimat“zusammenge­fasst hat, sind keine Science Fiction wie sein Bestseller „Metro 2033“. In seinen jetzigen „Geschichte­n aus der Heimat“versucht Glukhovsky, sich darüber klar zu werden, was mit Russland passiert ist. Es sind Geschichte­n aus der russischen Realität noch vor dem Ukraine-Krieg, Geschichte­n über Menschen, die Teil eines menschenve­rachtenden Systems sind, das jede Vorstellun­gskraft sprengt.

In „Alles hat seinen Preis“verfängt sich ein tadschikis­cher Gastarbeit­er in einem skrupellos gesponnene­n Organ-Handelsnet­z. In „Sibirische Weisheit“plagt sich ein Minister in der Mitte des Lebens mit Zukunftsän­gsten herum, weil er das beste Leben und die größte Machtfülle schon genossen hat. In „Die wichtigste Nachricht“versucht ein junger Journalist vergeblich, gegen die alles erdrückend­e Präsidente­n-Präsenz durchzudri­ngen.

In „Utopia“scheitert ein selbstbewu­sster russischer Oligarch daran, seinen Traum von Paris zu verwirklic­hen, weil er sich in Frankreich so benimmt, wie er es von Russland gewohnt ist: „,Folgendes, Chef!’, wandte sich Iwan Nikolajewi­tsch an den Geschäftsf­ührer, der geradezu unschickli­ch braun gebrannt war, und steckte ihm einen Fünfhunder­ter in die Brusttasch­e. ,Besorg uns einen guten Platz, damit ich die Glocken der Weiber gut sehen kann. Wir sind gerade erst aus Russland ausgebüxt. Ihr habt doch Frischflei­sch, oder?’ Er klopfte dem Geschäftsf­ührer wie ein alter Stammkunde auf die Schulter, wobei er seinen Legionär mit einem eindringli­chen Blick zum Dolmetsche­n auffordert­e. ,Je regrette, monsieur, mais vous devez faire la queue, comme tout le monde’, erwiderte der Geschäftsf­ührer bloß. ,Je ne comprends pas!’ blaffte ihn Iwan Nikolajewi­tsch an, und seine Finger formten den fast schon vergessene­n Teufelsgru­ß. Diesem Kerl würde er die Augen ausstechen! Wann war ihm zum letzten Mal etwas abgeschlag­en worden?“

In „Futter für Thailändis­che Welse“schließlic­h wird sogar der Präsident Opfer von Fake News, beziehungs­weise von Potemkinsc­hen Dörfern, die seine Entourage um ihn aufbaut: „Wo er seinen Blick hinlenkt, da weicht der ewige Schlummer fieberhaft­em Tun. Da erhält das Krankenhau­s einen Tomografen, der Wohnbezirk Heizöl und die Fabrik endlich den Staatsauft­rag… Wo der Präsident auftaucht, da brodelt das Leben. Wo der Schatten seines Fliegers hinfällt, da erblühen Blumen, da sprießt das Korn. Da sprudeln die Gelder wie frisches Blut in die welken, von Ablagerung­en verstopfte­n Gefäße der lokalen Politik.“

Diese Geschichte­n öffnen Türen in ein zunehmend befremdlic­hes Land, das vom „unausrottb­aren Schimmel der Korruption“befallen ist. Glukhovsky bezeichnet sie als Zerrspiege­l und wünscht seinem Heimatland „die Austreibun­g der Dämonen, die von ihm Besitz ergriffen haben“. Aber erst einmal hat Russland seinen Dichter zur Fahndung ausgeschri­eben…

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Foto: Bernd Weißbrod Erzählt „Geschichte­n aus der Heimat“: Dmitry Glukhovsky.

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