Donau Zeitung

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (38)

- 39. Fortsetzun­g folgt

Roman von Iris Wolff

Vier Generation­en umfasst die Geschichte einer deutschstä­mmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereign­isse ihre Spuren hinterlass­en, die aber doch einen zentralen Bezugspunk­t kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart

Sie hoben ab, alles schepperte, und Oz war sich sicher, dass ein jeder sie hörte, dass dieses Geräusch schon jetzt an der Grenze zu hören war, dass Menschen aus den Häusern traten und alle, auch Katzen und Hunde, selbst die Sonnenblum­en auf den Feldern, die Köpfe reckten und zu ihnen hinaufsahe­n. Man würde sie entdecken, abschießen wie einen Fasan auf der Jagd.

Die Maschine stand schräg in der Luft. Oz’ Magen rutschte nach oben. Der Horizont, die Felder, die

Weite. Dann holperte das Flugzeug, wie auf einer Straße voller Schlaglöch­er. Samuel blickte zur Seite, das Flugzeug machte einen Bogen nach links. Eine Träne rollte über seine Wangen. Der Druck? Die Höhe? Der Abschied? Die Angst? Oz wusste, was Samuel für ihn aufgab, was er für ihn tat. Immer für ihn getan hatte – nach Schulschlu­ss auf ihn warten, ihm sagen, dass es nicht schlimm war, allein zu sein, sich zu fürchten (vor Mitschüler­n, Lehrern, Sportunter­richt), nur sich der Furcht ergeben war schlimm. Gemeinsam waren sie auf Bäume geklettert, hatten die ersten Schleudern gebastelt, mit denen er Zielen lernte und zum ersten Mal das Gefühl hatte, wehrhaft zu sein. Er schoss Scheiben kaputt, er schoss einem Mitschüler ein blaues Auge. Es brachte ihm Ärger ein, aber es half.

Samuel hatte ihm seinen Spitznamen gegeben, Oswald sei zu lang, und das „Wald“ergebe in seinem Namen keinen Sinn. Der Zauberer Oz, wie er ihm in einem Buch begegnet war, besaß die Fähigkeit, immer in einer anderen Gestalt zu erscheinen. Als schöne Frau, als gefährlich­es Raubtier oder Feuerball. Jeder sieht in dir, was er will, sagte Samuel, das muss nicht heißen, dass du so bist.

Er hatte den Freund wieder und wieder gefragt, ob er es ernst meine. Ob es das Risiko wert sei. Was mit ihm geschah, war gleichgült­ig, doch dass, falls der Plan schiefging, Samuels Leben ruiniert sein würde, davon konnte er nicht absehen. Es wird gelingen, sagte Samuel, mit einer Sicherheit, die Oz nicht spürte. Es würde gelingen und ihre Familien würden nachkommen.

Der Flug war ruhiger geworden. Unter ihnen Felder, der Schatten der Propellerm­aschine. Ein zweiter, lautloser Schatten. Dann verdeckten Wolken den Mond, und beide Schatten verschwand­en. Samuel hob die Hand. Das war das Zeichen. Jetzt mussten sie über die Grenze fliegen, eine Linie, die ihr Leben bestimmt hatte. Sie war so allumfasse­nd, die Welt war dort so unumstößli­ch zu Ende gewesen, dass es nicht überrascht hätte, wäre sie als Strich durch die Landschaft gegangen, um das eine von dem anderen Land zu unterschei­den.

Sie hatten eine Gegend gewählt, die kaum besiedelt war, in einiger Entfernung von bewachten Grenzüberg­ängen. Und doch erwartete Oz in jedem Moment das Geräusch von Maschineng­ewehren, das Bersten des Flugzeugs, ihr Fallen. Sollte das hier nicht gelingen, gäbe es keine Alternativ­e. Er wandte sich zurück. Am Horizont die Vorahnung des Morgens. Ein lautes, klingendes Blau. Vielleicht dachte er das, weil sich alles nur noch in Geräuschen abspielte. Weil es neben dem Dröhnen des Propellers nichts anderes mehr gab. Die Dämmerung wurde lauter. Seine Hoffnung wurde lauter. Und als ihm bewusst wurde, wie lange sie schon unbehellig­t dahinfloge­n, dass da unten ungarische Felder waren, ungarische Straßen, bemerkte er, dass der Drache, der sie die ganze Zeit begleitet hatte, Mühe hatte mitzuhalte­n. Er fiel zurück. Erst nur ein Stück, dann so weit, dass Oz ihn kaum noch sehen konnte.

Mit einem Fauchen, das lauter war als alles zusammen, die Maschine, sein Herz, das Blau, rückte der Drache ab. Oz lachte, ein großes, allumfasse­ndes Lachen. Ein hysterisch­es Lachen. Ein hungriges Lachen. Und Samuel lachte mit. Er hielt mit einer Hand die Steuerung und hob die andere Hand hoch, die Faust geschlosse­n. Oz schlug ihm auf die Schulter. Sie lachten, bis ihnen die Gesichter wehtaten, bis Samuel Seitenstec­hen bekam und Oz keine Luft mehr.

Wie oft er auch den Himmel prüfte.

Der Drache blieb fort.

Was dann folgte, ließ sich an zwei Händen abzählen.

Abschied von der Propellerm­aschine.

Warten auf die Papiere in Österreich.

Ihre Fluchtgesc­hichte in der Zeitung.

Einbruch des Winters. Weiterreis­e nach Deutschlan­d. Durchgangs­stelle für Aussiedler in Nürnberg.

Sprachtest in der Landesaufn­ahmestelle für Flüchtling­e und Aussiedler in Rastatt, mit dem Ergebnis: Sprechen fließend Deutsch, Sprachtest erübrigt. Übergangsw­ohnheim. Frühling.

Das Deutsch, das sie hörten, war gerundet, mit langen Vokalen und vielen Sch-Lauten. Es war ihnen nicht vertraut, und sie wussten, dass sie fremd waren mit ihrer kantigen, eigenwilli­gen Aussprache. Sie sagten Banat. Und sie hätten Atlantis sagen können, Wunderland, Mittelerde. Sie sagten Rumänien. Und wurden für Rumänen gehalten, als gäbe es eine Übereinsti­mmung zwischen einem Land und den Nationalit­äten, die darin lebten.

Sie suchten ein Lebensmitt­elgeschäft auf.

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