Alle lagen ihm und seinen Chansons zu Füßen
Der Chansonnier Charles Aznavour konnte nicht aufhören: Noch mit 94 Jahren stand er auf der Bühne. Genau dort wollte er auch seinen 100. Geburtstag verbringen.
Aufhören? Bei bestimmten Künstlern will das nicht so recht funktionieren. Es ist wie eine Sucht; die Bühne, das Lampenfieber, der Applaus, die Wogen aus Glückshormonen. Bis zwei Wochen vor seinem Tod am 1. Oktober 2018 genoss Charles Aznavour noch dieses Gefühl, mit 94 Jahren. In einem Interview hatte er sich einmal gewünscht, zu seinem 100. Geburtstag als der älteste aktive Sänger der Welt auftreten zu können. Eigentlich wäre das am heutigen Mittwoch gewesen. Wer den stets freundlichen, immer ein wenig melancholisch dreinblickenden kleinen Mann in seinen letzten Lebensjahren erlebte, hätte sich das vorstellen können.
Als ihm der Tod endgültig das Mikrofon aus der Hand riss, herrschte Staatstrauer in Frankreich. Mit Charles Aznavour schien ein Unsterblicher abgegangen zu sein, ein ewiger Botschafter seines Landes, ein beweglicher Eiffelturm von 1,61 Meter Größe. Alle lagen sie ihm zu Füßen, schon 1963 in der New Yorker Carnegie Hall, später in der Londoner Royal Albert Hall, in der Berliner Philharmonie oder in Tokio. Dort sang er seine eigenen, kurzen, scheinbar einfachen Lieder. Chansons eben, deren Kunst darin lag, mit wenigen Worten Alltag und Ewigkeit zu verschmelzen, Liebe und Trauer, das Universal-Menschliche in jedem Moment des Lebens greifbar zu machen. Fast jeder Franzose kennt Aznavours „Hier Encore“(Gestern noch), in dem er davon erzählt, wie er als 20-Jähriger die Nächte durchbrachte und mit der Liebe spielte. In seiner speziellen tiefgreifenden Zermürbung vereinte er alles, was das Wesen des Chansonniers ausmacht: das Zweifeln, die Überwindung, auf die Bühne zu gehen und in den Texten das Innerste nach außen zu kehren.
Charles Aznavour komponierte in seiner mehr als sieben Jahrzehnte währenden Karriere mehr als 1000 Chansons, er verkaufte 180 Millionen Tonträger. Doch das war nur die eine Seite seiner Medaille, auf der nie ein winziges Quäntchen Patina haften blieb. 1960 verkörperte er die Rolle des tragischen Klavierspielers in François Truffauts Nouvelle-Vague-Klassiker „Schießen Sie auf den Pianisten“. Vor allem in Deutschland kennen sie ihn noch als den Spielzeughändler Sigismund Markus, der den zwergenwüchsigen Oskar Matzerath in dem 1979 von Volker Schlöndorff verfilmten Grass-Bestseller „Die Blechtrommel“regelmäßig mit neuen Schlagwerkzeugen versorgt. Auch als Schauspieler blieb er der ewige Chansonier: wehmütig, still in sich hinein weinend, voller unerfüllter Träume.
Charles Aznavours armenische Eltern flüchteten aus ihrer Heimat, um dem Völkermord an ihren Landsleuten zu entkommen, er selbst erblickte 1924 im Pariser Studentenviertel Quartier Latin als Schahnur Waghinak Asnawurjan das Licht der Welt. Vielleicht wäre er nie ein Weltstar geworden, wenn ihn nicht eine Chanson-Koryphäe wie Édith Piaf nach Ende des Zweiten Weltkriegs unter ihre Fittiche genommen, seine Texte interpretiert und ihn auf die Pariser Bühne geschoben hätte. Aznavour selbst sang auf Französisch, auf Italienisch, auf Deutsch, auf Englisch. Er schrieb Lieder über Transvestiten und Kriegskinder, über das Alter, über die Liebe im Wandel. Immer schienen seine Texte – klassisch existenzialistisch eigenen elementaren Erfahrungen abgerungen – sehr nah an ihm selbst.
Sein universaler Glanz ist selbst heute noch ungebrochen. Charles Aznavour überstrahlte und überlebte die komplette linke französische 68er-Kultur, Asterix und die Nouvelle Vague waren in den USA nie so populär wie er. Bestes Beispiel: „She“schaffte es 1999 in den Streifen „Notting Hill“mit Julia Roberts; eines von Aznavours populärsten Liedern. Weil es der Liebe keine Bedingungen stellt, sondern sich ihr einfach ergibt.