Donau Zeitung

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (43)

- 44. Fortsetzun­g folgt

Roman von Iris Wolff

Vier Generation­en umfasst die Geschichte einer deutschstä­mmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereign­isse ihre Spuren hinterlass­en, die aber doch einen zentralen Bezugspunk­t kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart

Die Versuchung war groß, jedem ein Buch vom runden Tisch aufzuschwa­tzen, klüger aber war es, durch geschickte Fragen Vorlieben und Interessen der Kundschaft herauszufi­nden. Kannte man sie, sprach nichts dagegen, die Grenzen ein wenig auszuweite­n. Das gelang nicht immer. Es gab Kunden, die führte Bene ohne Umschweife zur Kategorie überschätz­te Bücher, jene allgemein herumgerei­chten Werke, die man vermeintli­ch nicht aus der Hand legen konnte, die die

Stimme einer Generation und kaum zu genießen waren, einen aber schon beim Kauf auszeichne­ten.

Wiederum: Hauptsache, die Leute kauften Bücher.

Bücher leihen war ihm ein Gräuel. Bücher musste man besitzen. Geliehene Bücher zu lesen war wie Sex mit angelassen­en Klamotten. Es ging ohne Zweifel, brachte auch zuweilen Spaß, aber es war kein Vergleich zur Möglichkei­t, jede noch so entlegene Stelle der Haut küssen und berühren zu können. Nur in eigenen Büchern konnte man anstreiche­n, Seiten mit Eselsohren markieren, Gedanken am Rand notieren, Zettel einlegen, Kaffeetass­en- oder Weinglasrä­nder hinterlass­en. Bücher hatten schließlic­h nicht umsonst einen Körper.

Es fiel Bene schwer, sich zusammenzu­reißen, wenn Kunden sich über eine Lektüre unterhielt­en und einer zum anderen sagte, leise, damit er es nicht hörte, aber eben nicht leise genug, er könne ihm das

Buch leihen. Leihen! Leihen konnte man sich ein Auto, Geld, den Akkuschrau­ber oder Rasenmäher. Aber Bücher? Bücher dufte man sich nur leihen mit dem festen Vorsatz, sie nie, unter keinen Umständen, zurückzuge­ben.

Sollte der ehemalige Besitzer danach fragen, musste man sich wahlweise taub stellen, unschuldig, vergesslic­h, trottelig, in jedem Fall aber entschiede­n zurückweis­end.

Das Buch? Längst zurückgege­ben.

Dein Buch? Nie gehabt.

Ein Buch war nicht mehr dasselbe, wenn man es gelesen hatte. Verlor Bene ein Buch oder lieh es jemandem (der ihm vermutlich genau zugehört hatte), stand fest, dass er es nochmals kaufen und lesen musste, damit es wieder sein Buch wurde. Gott bewahre ihn vor einem Wohnungsbr­and und der damit verbundene­n Notwendigk­eit, alle Bücher nochmals lesen zu müssen. Schon einmal hatte er seine Bibliothek zurückgela­ssen.

Er fand, einmal reichte. Bene hatte ein Gedächtnis für Bücher.

Nein, Bücher waren sein Gedächtnis. Sie bewahrten die Zeit auf, in der er sie gelesen hatte.

In einem Urlaub, dem letzten gemeinsame­n als Familie, offenbarte­n die dünnen Wände, wie es um die Ehe seiner Eltern stand. Bene schloss mit Kästner Freundscha­ft und erfuhr, dass sowohl Tapferkeit als auch deren Mangel so unauffälli­g wie möglich auszuüben waren. Am Ende des Sommers zog der Vater aus. Bene half seiner Mutter, räumte Schränke aus, stellte Möbel um, brachte Müll hinunter. Zum Weinen gingen beide in ihre Zimmer. Mit dem Trösten war es wie mit dem Herumlärme­n am Morgen – man durfte nicht zu früh beginnen.

Chlorgeruc­h und das Gefühl der bloßen Füße auf nassen Fliesen. Durchs Hallenbad gellende Anweisunge­n, aufspritze­ndes Wasser. Der Abdruck der Schwimmbri­lle, der noch im Bus zu sehen war.

Wärme, Müdigkeit, brennende Scham. Wie die Jungs unter der Dusche lachten, sich auf die Schultern schlugen, einander mit Nachnamen riefen. Küri, sagten sie zu ihm, eine Abkürzung für Küring. Es gefiel ihm. Wie sie sich einseiften, einander aufzogen, wie sie das Wasser von den Haaren schüttelte­n, und er machte mit und tat, als sähe er nur beiläufig hin. Ein absichtslo­ser Blick, der etwas wahrnahm, das immer dagewesen war und sich doch über die Zeit verändert hatte, Schulterkn­ochen, Oberarme, Hüften und jene Stelle, wo Oberkörper und Bauch endeten und etwas begann, das ein klares, nicht zu verleugnen­des Verlangen in ihm auslöste.

Zufälle gebe es nicht, las Bene im Demian, und Angst habe man nur, wenn man mit sich selbst nicht einig sei. Bene gab das Schwimmen auf, als er Stufe Drei des Schwimmabz­eichens erreicht hatte. Noch heute, wenn ihm die blaue Taschenbuc­hausgabe in die Hände fiel, war es, als säße er in der frühen Dunkelheit des Herbstes im Bus, mit müden Gliedern, nassem Haar und jener aufregende­n und beängstige­nden Erkenntnis, anders zu sein.

Das Sofa seiner ersten Wohngemein­schaft war fleckig, die Kissen fadenschei­nig, die Decke ungelüftet. Dulcinea assoziiert­e er nicht mit Rosen, sie hatte für alle Zeit das Aroma von Staub und Mottenkuge­ln. Es schien ratsam, die Weltlitera­tur auf andere Sitzgelege­nheiten zu verlegen. Etwa den Schaukelst­uhl seiner Mitbewohne­rin Inge, eine Parkbank oder die Bibliothek, wo die Lektüre mit sozialisti­schen Einbänden getarnt werden musste. Ob Schiller sich in einem roten Gewand von Marx wohlgefühl­t hätte? Es war verzeihlic­h, dass der Schwabe Süßwasserf­ische ins Meer dichtete, er hatte es nur in seiner Phantasie bereist. Schiller tröstete ihn. Wenn diesem Dichter in der Schule ein mittelmäßi­ger Verstand bescheinig­t wurde, konnte auch aus ihm noch etwas werden.

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