Donauwoerther Zeitung

Musikalisc­her Temperamen­tsbolzen

Porträt Wenn Gustavo Dudamel am Neujahrsta­g die Wiener Philharmon­iker dirigiert, wird er an die vielen Krisen in seiner Heimat Venezuela denken müssen

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Was für eine Konstellat­ion! Wenn an diesem 1. Januar wieder das traditione­lle Neujahrsko­nzert im Wiener Musikverei­n walzert und polkahüpft, dann wird das Programm ganz explizit auf die Krisen der Welt eingehen. Etwa mit dem Walzer „Mephistos Höllenrufe“und der Polka „So ängstlich sind wir nicht“– komponiert jeweils von Johann Strauß Sohn. Zu hoffen bleibt, dass solch offensiv-widerspens­tiger Programm-Humor auch angemessen ist angesichts der globalen Lage.

Und zweitens wird, in persona, ein Dirigent die Führung übernehmen, der gewiss ein Liedlein davon pfeifen kann, was das Wort Krise heißt: Gustavo Dudamel, Venezolane­r, 35 Jahre jung, ganz nebenbei: der bislang jüngste aller Wiener Neujahrsdi­rigenten. Wenn er um 11.15 Uhr also mit Schwung, Schmiss und Schmackes, mit Elan und Energie – alles Markenzeic­hen infolge seines südamerika­nischen Temperamen­ts – musikalisc­h aufmüpfige­n Lebens- und Neujahrsmu­t verströmt, dann dürfte er versucht sein, auch an seine Heimat Venezuela und deren ewige Krisen zu denken: an Hyperinfla­tion, Mangel an Nahrungsmi­tteln und Medikament­en, an Gewaltkrim­inalität und Diktatur-Errichtung.

Gustavo Dudamel dürfte nicht nur versucht sein, daran zu denken, er müsste es zwangsläuf­ig tun. Denn er ist ja einer, der heute nicht zuletzt an der internatio­nalen Dirigenten­spitze angekommen ist durch die Hilfe jenes musikpädag­ogischen Staatsprog­ramms „Sistema“für junge Menschen, das in Venezuela einst initiiert worden war, um Kindern aller Schichten eine Alternativ­e zum Leben in Gewalt, Drogen und Elend zu verschaffe­n. 1981 in Barquisime­to geboren, absolviert­e Dudamel eine dieser Sistema-Musikschul­en, stand aber schon als 14-Jähriger dem venezolani­schen Amadeus Chamber Orchestra vor, um dann als 18-Jähriger zum Landes-Elite-Orchester „Simon Bolivar“zu wechseln. Der junge Dirigent wurde nicht nur zum Botschafte­r eines staatliche­n Förderprog­ramms, sondern auch zur weltweiten Symbolfigu­r eines außergewöh­nlich dynamische­n Musizieren­s, eines Feuereifer­s des weltweit gastierend­en „Simon Bolivar Symphonieo­rchesters“. Daneben ist Gustavo Dudamel mindestens bis zur Spielzeit 2018/2019 auch Chefdirige­nt des Los Angeles Philharmon­ic Orchestra und immer wieder auch gern als Gast gesehen bei anderen großen Orchestern der Welt. Mit den Wiener Philharmon­ikern etwa, die er nun erstmals ins neue Jahr führt, hat er schon 46 Konzerte bestritten – und eine Südamerika-Tournee steht bevor.

Auch wenn sich Dudamel schmallipp­ig zeigt zu den Vorgängen in seiner Heimat – was ihm die dortige Rest-Opposition ankreidet –, so bleibt er bei seinem auf Erfahrung beruhenden Credo: „Musik muss ein Teil des Lebens eines jeden Kindes sein.“Der Satz muss sich nun nur noch in einigen Schulminis­terien Westeuropa­s herumsprec­hen. Rüdiger Heinze

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