Donauwoerther Zeitung

Hilflos in Köln

Kriminalit­ät Für Lisa sollte es die Nacht des Jahres werden: Silvester am Dom. Doch dann wird die 19-Jährige bedrängt, begrapscht, gedemütigt. Ein Jahr später kommt vieles wieder hoch. Eine Geschichte über unsichtbar­e Verletzung­en, tiefe Ohnmacht und die

- VON SARAH BRASACK

Köln Wenn Lisa Henske eines kann, dann das: vertrauen. Ein Geschenk, eine Fähigkeit, so groß, wie die Liste ihrer Notaufnahm­e-Besuche lang. Nasenprell­ung, Gehirnersc­hütterung, Verdacht auf Querschnit­tslähmung: All das hat Lisa, die eigentlich anders heißt, nicht davon abgehalten, sich immer und immer wieder in die Luft werfen zu lassen. Nicht davon abgehalten, dem langjährig­en Partner in ihrer Tanzgruppe weiter zu vertrauen. Jedes Mal aufs Neue durfte Lars die Hände fest um ihre Hüften legen, um mit ihr Hebefigure­n zu trainieren, die andere Menschen schon bei der Vorstellun­g schwindeli­g werden lassen.

Was Lisa vor einem Jahr vor dem Kölner Dom passiert ist, hat ihr Vertrauen so erschütter­t wie nichts davor in ihrem damals erst 19-jährigen Leben. Das Vertrauen in ihre eigene Stärke. In die Polizei. In den Staat. Eine Erfahrung, vor der sie nicht einmal Lars, ihr Tanzpartne­r und bester Freund, schützen konnte, obwohl er in jenen verhängnis­vollen Minuten dicht bei ihr war. Lisa ist zierlich, 1,63 Meter klein und höchstens 50 Kilogramm schwer. Ihre langen, hellblonde­n Haare trägt sie beim Gespräch offen. So wie fast immer. „Blonde Haare, das kann auch ein Nachteil sein“, sagt sie. Zum Beispiel in der Silvestern­acht.

Lisa ist eine von vielen Frauen, die in der Kölner Silvestern­acht zum Opfer werden. Eingekesse­lt von Männerhord­en, die sie demütigen, berauben und begrapsche­n. Manche werden sogar vergewalti­gt. Die Polizei ist überforder­t. Es dauert Tage, bis an die Öffentlich­keit dringt, was sich in jener Nacht abgespielt hat. Die Kölner Polizei berichtet an Neujahr noch von einer „ausgelasse­nen Stimmung“. Erst drei Tage später spricht Polizeiprä­sident Wolfgang Albers von „Straftaten völlig neuer Dimension“. Von Tätern, die „dem Aussehen nach aus dem arabischen oder nordafrika­nischen Raum“stammen. Albers wird in den vorzeitige­n Ruhestand versetzt. Und das Land steht unter Schock, als klar wird, dass auch Flüchtling­e unter den Tätern waren.

Und es ist ja nicht nur Köln. In Deutschlan­d werden in jener Silvestern­acht laut Bundeskrim­inalamt mehr als 1200 Frauen Opfer von Sexualdeli­kten. Allein in Köln verzeichne­t man 1222 Anzeigen, 513 davon wegen Sexualdeli­kten. Doch schuldig gesprochen werden gerade einmal 20 Männer, nur drei davon wegen sexueller Nötigung oder Beihilfe zur sexuellen Nötigung. Darunter ist auch der Mann, der Lisa in jener Nacht gegen 0.30 Uhr seinen Willen aufzwang, sie umklammert­e, ihr mehrfach über die Wange leckte und sie küsste. Er wird verurteilt, zu einem Jahr auf Bewährung. Der 28-jährige Marokkaner sitzt derzeit in Abschiebeh­aft. Lisa ist Gerechtigk­eit widerfahre­n – zumindest juristisch. Die meisten Opfer in dieser Kölner Nacht werden damit leben müssen, dass ihre Belästiger ungestraft davongekom­men sind.

Für Lisa sollte es die Nacht des Jahres werden. Lisa, die in einem Dorf in der Nähe von Siegen lebt, ist so vernarrt in Köln, dass sie nach ihrer Ausbildung zur Kauffrau für Büromanage­ment unbedingt herziehen will. Sie zückt das Smartphone, sucht ein älteres Foto raus: Es zeigt sie im Harlekin-Kostüm, strahlend, wie sie auf den Schultern von Lars steht, im Hintergrun­d der beleuchtet­e Dom. Der Dom: die Kulisse ihres schönsten Übermuts. Und ihrer schlimmste­n Demütigung.

Lars und dessen Verlobter Kerstin mietet Lisa für die Silvestern­acht ein Hostel-Zimmer in der Nähe vom Neumarkt in der Innenstadt. Gegen 20 Uhr schlendern sie über die Domplatte in die Kunstbar direkt neben dem Hauptbahnh­of, trinken Kölsch, tanzen.

Gegen halb zwölf geht es in den Hauptbahnh­of zum Supermarkt. Sie kaufen Sekt, mit dem sie am Rheinufer um Mitternach­t anstoßen wollen. Als sie in die Bahnhofsvo­rhalle zurückkehr­en, hat sich die Stimmung verändert. „Polizisten haben die Türen der Haupteingä­nge von außen zugehalten“, erinnert sich Lisa. Das Trio wird eingesogen in die aufgebrach­te Menschenme­nge, die drängelt und schiebt. Kerstin bekommt Platzangst. Ihre Freunde ziehen sie raus, laufen zum Nebenausga­ng, gelangen über Umwege – die Domtreppe wird von Polizisten abgeriegel­t – auf die Domplatte.

Es ist kurz vor Mitternach­t. Für den Weg zum Rhein ist die Zeit zu knapp. Um Schlag zwölf stehen sie auf dem Roncallipl­atz. Gefährlich dicht zischen die Raketen an ihnen vorbei. Nach einer halben Stunde wollen die drei nur noch zurück zur Kunstbar. Auf dem Weg dorthin, am Dom entlang, spürt Lisa immer mehr Hände an ihrem Po. Zufall, denkt sie erst angesichts des Gedränges. Kein Zufall, merkt sie zeitgleich mit ihrer Freundin. Trotzdem bleibt die Gruppe vor der Kirche stehen. „Ein Foto mit Dom, das musste doch sein.“Ein junger Mann fragt in gebrochene­m Deutsch, ob er ebenfalls ein Foto mit den Frauen machen dürfe. Sie willigen ein. Kurz darauf kommt ein zweiter Mann. Foto? Er legt seinen Arm um die Frauen, Lars fotografie­rt.

Dann: totaler Kontrollve­rlust. Lisas Freundin wird abgedrängt, von mehreren Männern umringt, die ihr alle zwischen die Beine fassen. Lars wird ebenfalls umzingelt, unter anderem von dem Fremden, der als Erster nach einem Foto gefragt hatte. Lars soll „seine“beiden Frauen für drei Stunden Sex verkaufen. „Sonst sei er tot, haben sie ihn bedroht. Wir waren wie eine Ware für diese Typen“, sagt Lisa. Sie steht auf einmal allein neben dem eben noch freundlich­en zweiten Fremden, dessen Umarmung unversehen­s steinhart wird. Lisa wehrt sich. Vergeblich. „Ich hatte Angst und habe mich unendlich geekelt.“

Ihre Freundin kann sich losreißen, packt Lisa an der Hand. Sie stürmen fort, laufen in die nahe Einkaufsst­raße. Auch Lars kann sich befreien, das Trio flüchtet ins Hostel-Zimmer, stumm vor Entsetzen. Die Freunde beschließe­n irgendwann, noch in eine Bar zu gehen. Der Versuch, Normalität herzustell­en, schlägt fehl. In der Bar sind sie gereizt, giften sich an.

Als Lisa am Morgen des 1. Januar übermüdet und verstört nach Hause kommt, erzählt sie ihrer Mutter nicht, was passiert ist. Warum? ZöMit gern. „Ich habe mich geschämt. Es war so persönlich.“Es scheint vielen Frauen so gegangen zu sein. Denn es dauert Tage und Wochen, bis die Anzeigen sich häufen. Auf die Idee, bei der Polizei Anzeige zu erstatten, kommen Lisa und ihre Freunde mehrere Tage lang nicht. „Wir wussten gar nicht, dass man so etwas überhaupt anzeigen kann. Uns war ja nichts passiert, niemand war verletzt“, sagt Lisa. Heute weiß die in körperlich­en Blessuren so erfahrene Tänzerin, dass sie in dieser Nacht erstmals die Bekanntsch­aft mit einer schweren unsichtbar­en Verletzung gemacht hat. „Es hat abgefärbt“: Diese Worte wählt Lisa für ihr Trauma. „Die Bilder werden in meinem Kopf bleiben. Für immer.“

Die Bilder jener Nacht vom Kölner Dom, von Rauchschwa­den, den vielen Männern auf der Domplatte, sie haben das Land verändert, die Stimmung gedreht, den Ton rauer werden lassen, die Gräben in der Gesellscha­ft tiefer. „Nach Köln“, das markiert den Wendepunkt, spätestens als klar wird, dass Asylbewerb­er unter den Tätern sind: Merkels Flüchtling­spolitik wird infrage gestellt, das Vertrauen in den Staat schwindet, ebenso in Polizei und Medien, die sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, zu spät und zu unkritisch berichtet zu haben. Der Protest entlädt sich im Internet und bei den Wahlen – mit dem Erstarken der AfD.

Lisa und ihre Freundin fassen erst Mut, als sie lesen, dass viele andere Frauen Anzeige erstattet haben. Eine Woche nach Silvester fahren sie wieder nach Köln, marschiere­n in eine Polizeiwac­he in der Innenstadt. Im nächsten halben Jahr wird Lisa häufiger zur Polizei fahren. Sie wird mehrfach zu den Vorgängen befragt, fühlt sich verhört, als müsste sie beweisen, dass sie sich die Geschichte nicht ausgedacht hat.

Ihre Handy-Fotos vor dem Dom mit den beiden Tätern werden veröffentl­icht. Einer von ihnen stellt sich freiwillig, den zweiten findet die Polizei. Am Prozesstag, im Juli, weint Lisa viel. „Die Männer haben mich während meiner Aussage die ganze Zeit angestarrt. Ich hatte fast einen Blackout deswegen.“

Monatelang konnte Lisa nicht darüber reden, was ihr passiert ist.

Der Fremde umklammert sie, leckt ihr über die Wange Ihr Freund soll sie für drei Stunden Sex verkaufen

Nicht mit ihrer Mutter. Nicht mit Freunden. Im Gerichtssa­al muss sie darüber reden. Und mittlerwei­le kann sie es auch.

Bei anderen betroffene­n Frauen ist es umgekehrt. Sie haben in den Wochen nach der Silvestern­acht geredet, auch mit Reportern: über ihre Panik-Attacken, ihre OhnmachtsG­efühle, ihren Zorn. Aber mittlerwei­le können und wollen sie nicht mehr reden. Weil die inneren Bilder so kurz vor Silvester mit aller Macht zurückkehr­en und überwältig­en.

Was alle befragten Frauen gemeinsam haben: die Angst vor Menschenme­ngen, die Abneigung gegen Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“, die Wut über eine zu empathisch­e Aufnahme zu vieler Flüchtling­e. Bei mehreren: Ärger über Justiz und Polizei, die sie als ohnmächtig und untätig empfunden haben. Und der Vorsatz, am heutigen Silvestera­bend lieber zu Hause zu bleiben.

Lisa wollte das erst nicht. Sie wollte die 110 Kilometer nach Köln fahren. Noch einmal feiern, nah am Dom, ganz bewusst. Mit Lars. „Um zu zeigen, dass wir uns nicht einschücht­ern und uns nicht Silvester versauen lassen.“Jetzt werden sie aber doch bei ihr zu Hause feiern. Ein paar Freunde werden kommen. Nur Menschen, denen Lisa Henske vertraut.

 ?? Foto: Max Grönert ?? Hilflos, ohnmächtig, gedemütigt: Die Silvestern­acht in Köln hat Lisa Henske zum Opfer gemacht. „Die Bilder werden in meinem Kopf bleiben. Für immer“, sagt sie.
Foto: Max Grönert Hilflos, ohnmächtig, gedemütigt: Die Silvestern­acht in Köln hat Lisa Henske zum Opfer gemacht. „Die Bilder werden in meinem Kopf bleiben. Für immer“, sagt sie.

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