An der Endhaltestelle
Kein Zweifel, seine Gegner fürchten diesen Mann: Re cep Tayyip Erdogan. Eigentlich wollte der kleine Recep einst Fußballprofi werden – so jedenfalls will es die Legende, an der der heutige Präsident und seine Mitstreiter eifrig stricken. Eine andere Legende hören seine Anhänger nicht so gerne. Er soll einmal gesagt haben, dass die Demokratie wie eine Straßenbahn sei – wenn man an der Endhaltestelle sei, steige man aus. Genau dies scheint mit Blick auf 2016 der Fall zu sein: Nach der Abwehr des Militärputsches im Sommer nahm sich Erdogan mit kaltem Blick die Demokratie vor. Besser gesagt: Er nutzte das Trauma, das seinen Landsleuten in den letzten Jahrzehnten durch blutige Militärjuntas in die Seele gebrannt wurde, um seinerseits für einen schleichenden Staatsstreich zu sorgen. Zunächst entließ er Zehntausende unliebsame Verwaltungsbeamte, Lehrer oder Offiziere, dann kassierte er die Pressefreiheit, bevor er jetzt die pro-kurdische Oppositionspartei HDP eliminierte. Eine wenig erbauliche Jahresbilanz, wenn man bedenkt, dass Erdogan vor zwölf Jahren von dem damaligen Bundeskanzler in Berlin Gerhard Schröder mit dem „Quadriga-Preis“als „Europäer des Jahres“ausgezeichnet wurde. Von Würdigungen dieser Art ist der heute 62-Jährige aktuell weit entfernt. Doch zu Schröders Ehrenrettung sei angemerkt, dass der Westen damals voller Hoffnung auf die Türkei blickte. Das Land galt als Symbol dafür, dass auch in einer islamisch geprägten Gesellschaft Demokratie und eine moderne Wirtschaft blühen können. Dieser Traum ist am Bosporus vorerst ausgeträumt. Die Europäische Union will den letzten Schnitt – sprich den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen – noch nicht gehen. 2017 wird zeigen, ob Erdogan auch auf diesen letzten Kredit spucken wird. Simon Kaminski