Walser schlägt Haken
Literatur Heute erscheint der Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“. Er ist sowohl Verteidigungsschrift als auch Befreiungsschlag – mit überraschendem Ende
Der Buchtitel steht so quer, dass er einem nur noch Fragezeichen in den Kopf setzt: „Statt etwas oder Der letzte Rank“. Doch ein eingangs zitierter Wörterbucheintrag der Brüder Grimm hilft weiter. „rank“meint jene Wendung im Wettlauf, „die der verfolgte nimmt, um den verfolger zu entgehen.“Denn Verfolger, auch Kritiker, gar Großkritiker genannt, hat Martin Walser viele. Einen nicht geringen Teil seines Schriftstellerlebens hat er darauf verwandt, diesen professionellen Missgünstlingen zu entkommen – auch per Hakenschlag.
Um einen solchen handelt es sich auch in seinem heute erscheinenden jüngsten Roman. Um einen Befreiungsschlag, freilich nicht dergestalt, dass sich hier einer von allem und allen salviert. Walser bleibt der unbarmherzige Selbstbezichtiger, einer, der Reflexionen und Geständnisse, Wünsche und Versehrungen mit (Alp-)Träumen und literarischen Fantasien (u. a. mit und gegen Kafka) mischt und dies alles in seinem geräumigen 52 Kapitel-Roman unterbringt. Dabei dekliniert der Autor den legendären Spruch des Philosophen René Descartes („Ich denke, also bin ich“) in seinem Sinne fort: „Ich suche, also bin ich“; „Ich bin unmöglich, also bin ich“; „Ich entschuldige mich, also bin ich“; „Ich leide, also bin ich“; „Ich huste, also bin ich“und in der Summe: „Ich bin, also bin ich“.
An alledem schreibt natürlich, wie so oft, die Ironie mit, eine Art Lockerungsübung für den bierernsten Leser. Vor allem inszeniert Walser hier ein Spiel mit der Identität (seines Ich- und Er-Erzählers). Er imaginiert eine Schwebe jenseits allen „Interessengewusels“und „Sinnlieferungsgetobes“: der Autor ganz oben, unfassbar, losgelöst, nicht mehr erreichbar, nicht zu belangen. Walser formuliert sein Jenseits, einen Erlösungstraum, eine Elevation. In den besten Passagen schreibt er sich nicht nur frei, sondern tanzt sich geradezu frei – begleitet von der eigenen Wortmusik. Dem stehen allerdings Verbohrtheiten entgegen, die üblichen Verdächtigungen, ein teils selbstgenügsames Räsonnement, zudem wenig einprägsame Szenen – eben die Wechselfälle des Lesens.
Hat sich Walser, der am 24. März 90 Jahre alt wird, der vor 60 Jahren seinen ersten Roman „Ehen in Philippsburg“vorgelegt hat, abgesetzt? Hat er die Verfolger abgehängt? Eine seiner schönsten Miniaturen, in der das Ich der Lust am Spielen und Jonglieren nachgibt, endet mit dem Satz: „Viel sprach dafür, dass ich bald die Bälle fallen lassen musste und mich selber auch.“
Da ist sie wieder, die Schwerkraft der „Draußen-Welt“, ihr Theoriengewerbe mit den falschen Alternativen von Siegern und Besiegten, Möglichem und Unmöglichem. Walsers Ich-Erzähler kommt nur mit großer Mühe von den Verwundungen durch die „Feuilletongewaltigen“(der FAZ) los. Er setzt sein die Gewissheiten aufkündigendes Schreiben dagegen, die Suche, die „Spürbarkeiten“der Wörter.
Der Walser-Leser kennt das. In diesem Roman findet er so etwas wie eine Bilanz, der viele Anspielungen zu entnehmen sind, z. B. auf zurückliegende Romane („Liebeserklärungen sind das reinste Selbstgespräch“); auf die Wellen schlagende Frankfurter Rede zur Verleihung des Friedenspreises. Zum Standard bei diesem Autor zählen erotische Begegnungen und Fantasien, in denen sich die Formulierungskunst mit dem Kitsch verschwistert.
Am Ende ist alles vergessen, die Anfeindungen, die Selbstgeständnisse. Hölderlins Eingangszeilen zum großen „Friedensfeier“-Gedicht („Der himmlischen, still wiederklingenden, Der ruhigwandelnden Töne voll“) nimmt Walser auf in seine Eloge auf die Freundlichkeit.
Martin Walser: Statt etwas oder der letzte Rank, Rowohlt, 176 Seiten, 16,95 Euro