Ein Schiff hebt ab
Projekt Warum die MS Utting den Ammersee verlassen hat, um in München auf Bahngleisen wieder anzulegen
Stegen/München Die Augenringe sind deutlich sichtbar, als Daniel Hahn zum x-ten Mal an diesem Morgen die Geschichte der vergangenen Nacht erzählt: „Es waren ein paar spannende Momente dabei, aber es hat alles wunderbar geklappt“, sagt der 26-Jährige, und sein Blick schweift ein paar Meter weiter nach links. Dort liegt das 37 Meter lange und 144 Tonnen schwere Monstrum, das ihn und seine Freunde vom Verein Wannda in den vergangenen Wochen viel Kraft und viele Nerven gekostet und vergangene Nacht den Schlaf geraubt hat.
Es ist die MS Utting. Ein fast 70 Jahre altes Passagierschiff, das noch bis Dienstag bei Stegen im Ammersee geschwommen ist, ehe es mit riesigem Aufwand zu seinem neuen Bestimmungsort geschafft wurde. Der könnte außergewöhnlicher kaum sein. Seit Mittwoch liegt das Schiff auf den Gleisen einer stillgelegten Eisenbahnbrücke im Münchner Stadtteil Sendling.
Dort soll der alte Ausflugsdampfer künftig nicht nur zu einem Postkartenmotiv, sondern zu einer neuen Kulturstätte werden. „Wir sind immer auf der Suche nach neuen Räumen, die wir mit Kunst- oder Kulturprojekten bespielen können“, erklärt Daniel Hahn. Davon gebe es in München viel zu wenige.
Aus diesem Grund schlossen sich er und sieben weitere junge Sendlinger 2012 zum Verein Wannda zusammen und stampften seither mehrere alternative Projekte aus dem Boden. Im Frühsommer veranstalten sie ein zehntägiges Kulturfestival in der Isarvorstadt, im Winter einen Märchenbasar im Schlachthofviertel und unter dem Namen „Bahnwärter Thiel“bauten sie 2015 einen alten MAN-Schienenbus zum Veranstaltungsort um.
„Ich habe das Gefühl, dass sich Sendling so langsam zu Münchens neuem, kreativen Stadtteil entwickelt“, sagt Hahn und möchte seinen Teil dazu beitragen. So wird es auf der MS Utting künftig im Maschinenraum kleinere Veranstaltungen wie Kabarett oder Konzerte geben, an Deck soll den Gästen eine kleine Karte mit Gerichten aus re- gionalen Produkten angeboten werden. Auf eines legen die Initiatoren großen Wert: „Die Utting wird kein Partyschiff.“
Die Idee mit dem Dampfer mitten in der Großstadt entstand im vergangenen Jahr, als Hahn und seine Mitstreiter davon erfuhren, dass auf dem Ammersee ein in die Jahre gekommenes Passagierschiff in Ruhestand gehen und danach verschrottet werden soll. Was mit einer fixen Idee begann, wurde am Ende des Jahres recht schnell zur Realität. Innerhalb weniger Wochen kauften die Münchner um Daniel Hahn für einen symbolischen Euro die MS Utting, suchten nach einem neuen „Anlegeplatz“, besorgten sich unzählige Genehmigungen und bauten mehrere Stahlträger in das Schiff, um dieses auf den ungewohnten Transport über Land vorzubereiten.
Am Dienstag wurde es dann ernst. Tagsüber wurde das Motorschiff unter Glockengeläut in Stegen aus dem Ammersee und in zwei Teilen – Rumpf und Oberdeck wurden voneinander getrennt – auf zwei Schwertransporter gehievt. Über Nacht ging es dann auf die Autobahn nach München. Daniel Hahn und seine Vereinskameraden fuhren vorneweg, schraubten Schilder ab und machten den Weg frei für das ungewöhnliche Gespann. „Wirklich knapp war es im Münchner Candidtunnel und auf der Brudermühlbrücke. Da ging es teilweise um Zentimeter und nur ganz langsam voran“, erzählt Hahn.
In den frühen Morgenstunden erreichten sie schließlich die ehemalige Eisenbahnbrücke nahe der Münchner Markthallen, wo sich schnell dutzende Schaulustige einfanden, um das Spektakel eines fliegenden Schiffes, das schließlich auf Gleisen landet, live zu verfolgen. Allerdings mussten sie sich dafür eine ganze Weile gedulden.
Böiger Wind und störende Bäume erschwerten selbst den erfahrensten Spediteuren die Arbeit, sodass der Rumpf der MS Utting erst um kurz nach elf Uhr und damit mit rund vierstündiger Verspätung abhob. Zwei Autokräne bugsierten das Schiff an Bäumen, Laternen und Brückenpfeilern vorbei auf die mit Holzbalken vorbereiteten Eisenbahngleise. Am späten Nachmittag folgte dann noch das Oberdeck.
Wie viel Geld der Verein der jungen Sendlinger insgesamt in Kauf, Umbau und Transport des Schiffes gesteckt hat, wollte Daniel Hahn gestern nicht genau verraten – ein sechsstelliger Betrag werde es aber wohl schon werden, meinte er.