Songs von den Sorgen der Welt
Martin Gore und Dave Gahan über Abgründe, das Älterwerden – und warum das Leben als Popstars eine „lohnende Tortur“bleibt
Ist „Spirit“das pessimistischste Depeche-Mode-Album aller Zeiten? Martin Gore: Das Wort „pessimistisch“kann ich nicht so gut leiden. Ich mag den Begriff „realistisch“lieber. Wir sprechen die Dinge so an, wie sie sind. Falls das ein bisschen deprimierend rüberkommt, dann tut es mir leid (lacht).
Sie singen im Song „Eternal“von Ihrer kleinen Tochter Johnnie Lee, die vor einem Jahr zur Welt kam. Ein schöner Song, nur – musste diese Textzeile wirklich sein: „Wenn der radioaktive Regen fällt, werde ich dir in die Augen schauen und dich küssen“? Gore: Das ist doch romantisch! (lacht) Okay, sagen wir, es ist meine Art der Romantik. Ich denke, wenn du in der heutigen Zeit ein Kind in die Welt setzt, dann musst du immer mit dem Schlimmsten rechnen. Es gibt diese allgegenwärtige Gefahr von allem, Atomkrieg inklusive. Wir haben seit einigen Monaten einen verrückten Mann im größten und wichtigsten Amt der Welt. Wer weiß schon, was da weiter passieren wird.
Mr. Gahan, Ihre Tochter Stella Rose wird im Juli 18. Sind Sie besorgt, in was für einer Welt sie leben wird? Dave Gahan: Absolut. Die Frage stelle ich mir, auch in Bezug auf meine zwei erwachsenen Söhne. Du willst, dass die Kinder geborgen und in Freiheit aufwachsen. Dass sie sich entscheiden können, wie sie leben wollen. Die Angst, die von Politikern wie Trump verbreitet wird, ist irreal, verrückt. Niemandem ist gedient, wenn auf Minderheiten herumgehackt wird. Überall auf der Welt wollen die Menschen in Frieden, Sicherheit und Freiheit leben. Die Welt lässt sich nicht einteilen in die Guten und die Bösen.
Die Grundstimmung auf „Spirit“ist dunkel, traurig und wütend. Ist das Album ein Ausdruck von Sorge, Angst, Wut und Frust angesichts der Entwicklungen auf der Welt? Gahan: Ja, alles das trifft zu. Vor allem verspüre ich Frust und auch Verunsicherung. Wo soll es hingehen? Wem sollen wir glauben? Wem folgen? Man kann schon sehr sarkastisch werden. Es ist kaum möglich, nicht betroffen zu sein von allem, was du im Fernsehen siehst und was du liest.
Das Album beginnt mit „Going Backwards“, „Where’s The Revolution“und „The Worst Crime“, Songs mit sehr politischem Inhalt. Was hat Sie dazu bewogen? Der Brexit? Trump? Gore: Das Album war schon fertig, als Trump an die Macht kam, und schon geschrieben, als die Briten für den Brexit stimmten. Ich denke, die Menschheit ist sehr weit weggekommen von ihrem Pfad. Wir haben einiges von unserem menschlichen Geist verloren, wir haben einige wirklich schlechte Entscheidungen getroffen in den vergangenen Jahren, die ich nur schwer verkraften kann.
Was hat Sie besonders bewegt? Gore: Für uns war der Krieg in Syrien ein großes Thema. Wenn wir mit der Arbeit an einem neuen Album beginnen, dann treffen wir uns ja immer erst mal und besprechen in Ruhe, wo wir persönlich so stehen und wie wir die Welt sehen. Andy, Dave und ich sind erschüttert, dass die Welt sich einfach zurücklehnt und dieses Abschlachten aus sicherer Entfernung beobachtet. Wir hatten in den Neunzigern eine ähnliche Situation in Bosnien, aber da gab es wenigstens Versuche der internationalen Gemeinschaft, Frieden zu schaffen. In Syrien wusch sich der Westen seine Hände in Untätigkeit. Sehr bewegt hat uns auch die „Black Lives Matter“-Kampagne. Wie kann es sein, dass schwarze Menschen in den USA reihenweise von der Polizei erschossen werden? Manchmal sieht es für mich so aus, als hätte es in diesem Land nie eine Bürgerrechtsbewegung gegeben.
Wo ist sie denn, die Revolution? Warten Sie auf einen Aufstand? Gore: So einen polarisierenden Machthaber wie Trump habe ich in einer Demokratie noch nicht erlebt. Er macht eine Politik, die von vernünftigen Leuten schlicht für Wahnsinn gehalten wird. Und über den Brexit hätte man niemals eine solche Volksabstimmung mit einfacher Mehrheit machen dürfen. Das war ein gigantischer Fehler. Am Ende ging es ja fast 50:50 aus. Die meisten Leute wussten ohnehin nicht, was sie da zu entscheiden hatten. Ich bin kein Befürworter von Waffengewalt und Blutvergießen, aber mit so einer polarisierenden Figur an der Spitze und in der Mitte komplett gespaltenen Ländern kann es zu einem Punkt kommen, an dem es sehr viel Unruhe gibt.
Wer „Spirit“gehört hat, der macht sich jedenfalls danach noch mehr Sorgen um die Welt als vorher.
Gore: Ja. Das soll er auch! Denn die Sorgen sind berechtigt. Für mich war eine der wesentlichen Intentionen mit dem Album, die Leute zum Denken zu bewegen.
Mr. Gahan, so weit man weiß, sind Sie ein glücklicher, nach Drogenexzessen, Herzstillstand und Blasenkrebs inzwischen gesund lebender, durchtrainierter Mann von 54 Jahren. Wie schwer fällt es Ihnen, solch lyrisch abgründigen Songtexte wie jenen zu „Poison Heart“zu schreiben?
Gahan: In Musik und Texten offenbare ich Aspekte von mir, die ich so im wahren Leben nicht formulieren kann und möchte. Und die ich auch niemals würde in einer Beziehung ausleben wollen. In meinen Songs kommt der Teil meiner Persönlichkeit zum Ausdruck, der ansonsten verschlossen und versteckt bleibt. Und das aus gutem Grund (lacht).
Warum ist das so?
Gahan: Ich kann es nicht genau sagen. Ich weiß nur: Manchmal muss ich Dark Dave rauslassen. Sonst würde er mich auffressen. Glücklicherweise kann ich heute reinschlüpfen und rausschlüpfen aus diesem Charakter. Ich bin nicht mehr auf der dunklen Seite gefangen
so wie früher.
Es scheint, als ob der Respekt, den die Menschen Depeche Mode entgegenbringen, von Album zu Album zunimmt. Ganz früher galten Sie als Teenieband, inzwischen sind Sie quasi Ikonen. Liegt das am Alter? Gahan: Auch. Aber nicht nur. Nach all den Jahren ist es für uns enorm wichtig, ein Album zu machen, das standhalten kann. Das es wert ist, mit der Musik, die wir über die Jahre gemacht haben, in einer Reihe zu stehen. Nach 35 Jahren deine kreativen Grenzen zu verschieben, ist nicht einfach und manchmal unbequem. Aber das ist eine lohnende Tortur, und eine Alternative sehe ich für uns nicht. Können Sie sich vorstellen, in 13, 14 Jahren mit Depeche Mode das 50-jährige Bandjubiläum zu feiern? Gore: Warum eigentlich nicht? Gahan: Ich wüsste gar nicht, was ich mit mir anfangen sollte, wenn ich die Musik nicht mehr hätte. Ich kann mir allerdings vorstellen, später nicht mehr so lange auf Tournee zu sein. Ich liebe das, aber es wird immer schwerer, je älter ich werde. Davon abgesehen sehe ich gerade auch nichts, das uns stoppen könnte.