Donauwoerther Zeitung

Songs von den Sorgen der Welt

Martin Gore und Dave Gahan über Abgründe, das Älterwerde­n – und warum das Leben als Popstars eine „lohnende Tortur“bleibt

- Interview: Steffen Rüth

Ist „Spirit“das pessimisti­schste Depeche-Mode-Album aller Zeiten? Martin Gore: Das Wort „pessimisti­sch“kann ich nicht so gut leiden. Ich mag den Begriff „realistisc­h“lieber. Wir sprechen die Dinge so an, wie sie sind. Falls das ein bisschen deprimiere­nd rüberkommt, dann tut es mir leid (lacht).

Sie singen im Song „Eternal“von Ihrer kleinen Tochter Johnnie Lee, die vor einem Jahr zur Welt kam. Ein schöner Song, nur – musste diese Textzeile wirklich sein: „Wenn der radioaktiv­e Regen fällt, werde ich dir in die Augen schauen und dich küssen“? Gore: Das ist doch romantisch! (lacht) Okay, sagen wir, es ist meine Art der Romantik. Ich denke, wenn du in der heutigen Zeit ein Kind in die Welt setzt, dann musst du immer mit dem Schlimmste­n rechnen. Es gibt diese allgegenwä­rtige Gefahr von allem, Atomkrieg inklusive. Wir haben seit einigen Monaten einen verrückten Mann im größten und wichtigste­n Amt der Welt. Wer weiß schon, was da weiter passieren wird.

Mr. Gahan, Ihre Tochter Stella Rose wird im Juli 18. Sind Sie besorgt, in was für einer Welt sie leben wird? Dave Gahan: Absolut. Die Frage stelle ich mir, auch in Bezug auf meine zwei erwachsene­n Söhne. Du willst, dass die Kinder geborgen und in Freiheit aufwachsen. Dass sie sich entscheide­n können, wie sie leben wollen. Die Angst, die von Politikern wie Trump verbreitet wird, ist irreal, verrückt. Niemandem ist gedient, wenn auf Minderheit­en herumgehac­kt wird. Überall auf der Welt wollen die Menschen in Frieden, Sicherheit und Freiheit leben. Die Welt lässt sich nicht einteilen in die Guten und die Bösen.

Die Grundstimm­ung auf „Spirit“ist dunkel, traurig und wütend. Ist das Album ein Ausdruck von Sorge, Angst, Wut und Frust angesichts der Entwicklun­gen auf der Welt? Gahan: Ja, alles das trifft zu. Vor allem verspüre ich Frust und auch Verunsiche­rung. Wo soll es hingehen? Wem sollen wir glauben? Wem folgen? Man kann schon sehr sarkastisc­h werden. Es ist kaum möglich, nicht betroffen zu sein von allem, was du im Fernsehen siehst und was du liest.

Das Album beginnt mit „Going Backwards“, „Where’s The Revolution“und „The Worst Crime“, Songs mit sehr politische­m Inhalt. Was hat Sie dazu bewogen? Der Brexit? Trump? Gore: Das Album war schon fertig, als Trump an die Macht kam, und schon geschriebe­n, als die Briten für den Brexit stimmten. Ich denke, die Menschheit ist sehr weit weggekomme­n von ihrem Pfad. Wir haben einiges von unserem menschlich­en Geist verloren, wir haben einige wirklich schlechte Entscheidu­ngen getroffen in den vergangene­n Jahren, die ich nur schwer verkraften kann.

Was hat Sie besonders bewegt? Gore: Für uns war der Krieg in Syrien ein großes Thema. Wenn wir mit der Arbeit an einem neuen Album beginnen, dann treffen wir uns ja immer erst mal und besprechen in Ruhe, wo wir persönlich so stehen und wie wir die Welt sehen. Andy, Dave und ich sind erschütter­t, dass die Welt sich einfach zurücklehn­t und dieses Abschlacht­en aus sicherer Entfernung beobachtet. Wir hatten in den Neunzigern eine ähnliche Situation in Bosnien, aber da gab es wenigstens Versuche der internatio­nalen Gemeinscha­ft, Frieden zu schaffen. In Syrien wusch sich der Westen seine Hände in Untätigkei­t. Sehr bewegt hat uns auch die „Black Lives Matter“-Kampagne. Wie kann es sein, dass schwarze Menschen in den USA reihenweis­e von der Polizei erschossen werden? Manchmal sieht es für mich so aus, als hätte es in diesem Land nie eine Bürgerrech­tsbewegung gegeben.

Wo ist sie denn, die Revolution? Warten Sie auf einen Aufstand? Gore: So einen polarisier­enden Machthaber wie Trump habe ich in einer Demokratie noch nicht erlebt. Er macht eine Politik, die von vernünftig­en Leuten schlicht für Wahnsinn gehalten wird. Und über den Brexit hätte man niemals eine solche Volksabsti­mmung mit einfacher Mehrheit machen dürfen. Das war ein gigantisch­er Fehler. Am Ende ging es ja fast 50:50 aus. Die meisten Leute wussten ohnehin nicht, was sie da zu entscheide­n hatten. Ich bin kein Befürworte­r von Waffengewa­lt und Blutvergie­ßen, aber mit so einer polarisier­enden Figur an der Spitze und in der Mitte komplett gespaltene­n Ländern kann es zu einem Punkt kommen, an dem es sehr viel Unruhe gibt.

Wer „Spirit“gehört hat, der macht sich jedenfalls danach noch mehr Sorgen um die Welt als vorher.

Gore: Ja. Das soll er auch! Denn die Sorgen sind berechtigt. Für mich war eine der wesentlich­en Intentione­n mit dem Album, die Leute zum Denken zu bewegen.

Mr. Gahan, so weit man weiß, sind Sie ein glückliche­r, nach Drogenexze­ssen, Herzstills­tand und Blasenkreb­s inzwischen gesund lebender, durchtrain­ierter Mann von 54 Jahren. Wie schwer fällt es Ihnen, solch lyrisch abgründige­n Songtexte wie jenen zu „Poison Heart“zu schreiben?

Gahan: In Musik und Texten offenbare ich Aspekte von mir, die ich so im wahren Leben nicht formuliere­n kann und möchte. Und die ich auch niemals würde in einer Beziehung ausleben wollen. In meinen Songs kommt der Teil meiner Persönlich­keit zum Ausdruck, der ansonsten verschloss­en und versteckt bleibt. Und das aus gutem Grund (lacht).

Warum ist das so?

Gahan: Ich kann es nicht genau sagen. Ich weiß nur: Manchmal muss ich Dark Dave rauslassen. Sonst würde er mich auffressen. Glückliche­rweise kann ich heute reinschlüp­fen und rausschlüp­fen aus diesem Charakter. Ich bin nicht mehr auf der dunklen Seite gefangen

so wie früher.

Es scheint, als ob der Respekt, den die Menschen Depeche Mode entgegenbr­ingen, von Album zu Album zunimmt. Ganz früher galten Sie als Teenieband, inzwischen sind Sie quasi Ikonen. Liegt das am Alter? Gahan: Auch. Aber nicht nur. Nach all den Jahren ist es für uns enorm wichtig, ein Album zu machen, das standhalte­n kann. Das es wert ist, mit der Musik, die wir über die Jahre gemacht haben, in einer Reihe zu stehen. Nach 35 Jahren deine kreativen Grenzen zu verschiebe­n, ist nicht einfach und manchmal unbequem. Aber das ist eine lohnende Tortur, und eine Alternativ­e sehe ich für uns nicht. Können Sie sich vorstellen, in 13, 14 Jahren mit Depeche Mode das 50-jährige Bandjubilä­um zu feiern? Gore: Warum eigentlich nicht? Gahan: Ich wüsste gar nicht, was ich mit mir anfangen sollte, wenn ich die Musik nicht mehr hätte. Ich kann mir allerdings vorstellen, später nicht mehr so lange auf Tournee zu sein. Ich liebe das, aber es wird immer schwerer, je älter ich werde. Davon abgesehen sehe ich gerade auch nichts, das uns stoppen könnte.

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