Donauwoerther Zeitung

Die Grundschul­e als Wegweiser?

Bildung Ob Kinder Mittelschu­le, Realschule oder Gymnasium besuchen, entscheide­t vor allem der Notenschni­tt. Gegen diese Praxis mehren sich die Stimmen. Wie Lehrer und Eltern das beurteilen

- VON ANIKA ZIDAR

Augsburg Wenn am Mittwoch mit dem schriftlic­hen Mathe-Abitur die Prüfungen beginnen, wird von vielen Abiturient­en eine Last abfallen. Längst vergessen sind freilich jene Anstrengun­gen, die die Schüler in der vierten Klasse auf sich genommen haben, um überhaupt ihr Gymnasium besuchen zu dürfen. Was in Grundschul­en passiert, wenn der Übertritt ansteht, ist für Simone Fleischman­n alarmieren­d: Kaum Zeit für Hobbys, regelmäßig­e Nachhilfe und Eltern, die mit Rechtsanwa­lt in die Sprechstun­de kommen. Die Präsidenti­n des Bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­nverbands (BLLV) war selbst lange Grundschul­leiterin. Sie sagt: „Die Eltern setzen sich und ihre Kinder so großem Druck aus, dass sie alles Mögliche tun, damit ihr Kind auf ein Gymnasium geht.“

Ob sich der Elternwuns­ch erfüllt, hängt vor allem vom Notenschni­tt im Übertritts­zeugnis ab (siehe Infokasten), das bayerische Viertkläss­ler am Dienstag erhalten. Im vergangene­n Jahr wechselten 39 Prozent der bayerische­n Viertkläss­ler auf ein Gymnasium (35 Prozent in Schwaben) und 29 Prozent auf eine Realschule (32 Prozent in Schwaben). Im Vorfeld der Zeugnisver­gabe müssen die Schüler über 20 Leistungsn­achweise in den Fächern Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterr­icht erbringen. BLLV, SPD und Grüne im Landtag kritisiere­n das Verfahren seit Jahren. Sie fordern: Die Grundschul­e muss dem pädagogisc­hen Auftrag nachkommen und nicht einem Sortierauf­trag.

2014 hatte die SPD-Landtagsfr­aktion versucht, das im Freistaat geltende Verfahren gerichtlic­h zu kippen und Eltern vom Notendurch­schnitt losgelöst entscheide­n zu lassen, auf welche Schule das Kind geht. Vor dem Bayerische­n Verfassung­sgerichtsh­of argumentie­rte die SPD: „Die Verfassung gesteht Eltern das Recht zu, über den Lebensweg der Kinder selbstvera­ntwortlich entscheide­n zu dürfen.“Doch das Verfahren, das in Bayern seit Jahrzehnte­n Schüler in das dreigliedr­ige Schulsyste­m einteilt, ist nach Urteil des Gerichts verfassung­skonform. Dem Elternwill­en werde genug Platz eingeräumt.

Tatsächlic­h können Eltern ihre Kinder unabhängig vom Notendurch­schnitt im Übertritts­zeugnis zu einem Probeunter­richt an der Schule ihrer Wahl anmelden, sagt Benedikt Mayer, Lehrer am VöhlinGymn­asium in Memmingen. Wenn die Schüler die zentralges­tellten Prüfungen des Kultusmini­steriums in Deutsch und Mathe jeweils mit der Note vier bestehen, dürfen sie die Schule besuchen. Mayer, der als Gymnasiall­ehrer im Bayerische­n Philologen­verband organisier­t ist, setzt aber mehr auf die Urteilsfäh­igkeit der Grundschul­lehrer: „Nur sie können Kompetenze­n der Schüler objektiv beurteilen. Noten, die sie vergeben, messen die Leistung fair und sind ein sehr gutes Mittel zur Entscheidu­ng, wer für den Übertritt wirklich geeignet ist.“Hat ein Kind einmal den Sprung auf eine weiterführ­ende Schule geschafft, sei der Notendurch­schnitt nebensächl­ich, sagt Mayer: „Bei uns fangen alle bei null an. Was vorher war, interessie­rt die Lehrer in der Regel nicht.“

Auch Stephan Lippold, Leiter des Peutinger-Gymnasiums Augsburg, ist überzeugt: „Grundschul­lehrer sind die Profis, die die Kinder über zwei Jahre täglich in ihrer Entwicklun­g begleiten. Ließe man Eltern allein über die Wahl des Bildungswe­gs entscheide­n, so würde im Prozess die Schulsicht fehlen.“Lippold geht es um die Bildungspa­rtnerschaf­t zwischen Eltern und Lehrern, betont er: „Beide sollten miteinande­r sprechen und sich Rückmeldun­g geben, um das Kind zu fördern.“Mit Blick auf die Übertritts­phase rät Lippold zur Gelassenhe­it: „Auch ein Kind, das zunächst zur Realschule oder Mittelschu­le geht, kann auf ein Gymnasium wechseln. Es verpasst nichts, wenn man ihm mehr Zeit zur Entwicklun­g gibt.“

Für mehr Lernzeit plädieren auch der BLLV, die Landtags-SPD und der Bayerische Grundschul­verband. Carina Hartmann, Doktorandi­n für Grundschul­didaktik an der Uni Augsburg, sagt: „Um Kindern, die in der vierten Klasse noch nicht so weit sind, ein Übertritts­drama zu ersparen, wünsche ich mir eine gemeinsame Lernzeit bis zur sechsten Klasse.“Was den Druck vor dem Übertritt deutlich senke, sei die gemeinsame Beschulung von Drittund Viertkläss­lern in jahrgangsg­emischten Klassen. „Geht es nur für die Hälfte um den Übertritt, lernt es sich deutlich entspannte­r.“Die Pädagogin sagt aber auch: „Den Druck, den Eltern von Grundschul­kindern aushalten müssen, machen sie sich meist selbst.“Der Auffassung ist auch Ulrike Stautner, Regionalbe­auftragte für Schwaben in der Landeselte­rnvereinig­ung. „Für die Gesellscha­ft ist es ein Makel, wenn ein Kind nicht aufs Gymnasium geht. Erst wenn das aufhört, lernen alle entspannte­r.“»Kommentar

 ?? Foto: Jens Kalaene, dpa ?? Für viele Kinder ist die Grundschul­zeit stressig. Vor allem dann, wenn – wie jetzt – die Frage ansteht, ob der weitere Weg auf ein Gymnasium, eine Real oder eine Mittelschu­le führt.
Foto: Jens Kalaene, dpa Für viele Kinder ist die Grundschul­zeit stressig. Vor allem dann, wenn – wie jetzt – die Frage ansteht, ob der weitere Weg auf ein Gymnasium, eine Real oder eine Mittelschu­le führt.

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