Paul Auster: Die Brooklyn Revue (16)
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzung von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Ich habe keine Schwierigkeiten, das zuzugeben. Tom weiß alles über meine Vergangenheit, und was Tom weiß, sollen Sie auch wissen. Tom gehört für mich zur Familie, und da Sie mit Tom verwandt sind, gehören Sie für mich auch zur Familie. Sie, der Exonkel Nat, jetzt bekannt als Nathan, schlicht und einfach. Ich habe meine Schulden an die Gesellschaft beglichen, mein Gewissen ist rein. Ex ist das Entscheidende, mein Freund, ein für alle Mal, auf das Ex kommt es an.“
Darauf war ich nicht gefasst, dass Harry mit einem so unverblümten Eingeständnis seiner Schuld kommen würde. Tom hatte mich gewarnt, sein Boss stecke voller Widersprüche und Überraschungen, aber im Kontext eines so burlesken, so ausgelassenen Wortwechsels fand ich es verblüffend, dass er es plötzlich für angebracht halten sollte, einem vollkommen Fremden so vertrauliche Dinge zu erzählen. Vielleicht tut er das, weil er Tom vor kurzem alles gebeichtet hat, dachte
ich. Er hat den Mut aufgebracht, die sprichwörtliche Katze aus dem Sack zu lassen, und nachdem er es einmal getan hat, fällt es ihm vielleicht nicht mehr schwer, es ein zweites Mal zu tun. Ich konnte mir nicht sicher sein, aber fürs Erste schien mir das die einzige brauchbare Hypothese. Ich hätte lieber noch ein wenig länger über diese Frage nachgedacht, aber das ließen die Umstände nicht zu.
Die Unterhaltung stürmte weiter voran, der spaßige Ton blieb immer derselbe, die grotesken Witzeleien, Ulk, Gefrotzel und pseudotheatralischen Wendungen, und alles in allem musste ich zugeben, dass der kugelköpfige Schurke einen recht vorteilhaften Eindruck auf mich machte. Er mochte ein wenig anstrengend sein, aber eine Enttäuschung war er nicht. Als ich seinen Laden verließ, hatte ich Tom und Harry bereits für Samstagabend zum Essen eingeladen.
Es war kurz nach vier, als ich in meine Wohnung zurückkam. Ich war mit den Gedanken noch bei Rachel, aber für einen Anruf war es noch zu früh (sie kam erst um sechs von der Arbeit nach Hause), und als ich mir vorstellte, wie ich den Hörer abnahm und ihre Nummer wählte, fand ich, dass ich es genauso gut auch lassen könnte. Wir standen auf so schlechtem Fuß miteinander, dass sie sehr wahrscheinlich einfach wieder auflegen würde, und die Aussicht, mir noch eine Abfuhr von meiner Tochter zu holen, machte mir Angst. Statt anzurufen wollte ich lieber schreiben. Das war weniger riskant, und wenn ich keinen Absender auf den Umschlag schrieb, standen die Chancen nicht schlecht, dass sie den Brief aufmachen und lesen und nicht zerreißen und in den Müll werfen würde.
Ich hatte das für einfach gehalten, brauchte aber sechs oder sieben Anläufe, bis ich den richtigen Ton gefunden zu haben glaubte. Jemanden um Verzeihung bitten ist eine komplizierte Angelegenheit, ein heikler Balanceakt zwischen halsstarrigem Stolz und tränenreicher Reue, und wenn man sich dem anderen gegenüber nicht wirklich öffnen kann, klingt jede Entschuldigung leer und falsch. Als ich an den verschiedenen Entwürfen des Briefs arbeitete (und dabei immer niedergeschlagener wurde, mir alles vorwarf, was in meinem Leben schief gelaufen war, und meine arme, kaputte Seele geißelte wie ein mittelalterlicher Büßer), musste ich an ein Buch denken, das Tom mir vor acht oder neun Jahren – im goldenen Zeitalter, als June noch lebte und Tom noch der brillante und viel versprechende Dr. Thumb war – zum Geburtstag geschenkt hatte. Es war eine Biographie von Ludwig Wittgenstein, einem Philosophen, von dem ich gehört, den ich aber nie gelesen hatte, was nicht ungewöhnlich war, da meine Lektüre sich hauptsächlich auf Romane erstreckte und mich so gut wie nie auf andere Felder führte. Das Buch war fesselnd und gut geschrieben, aber vor allem eine Geschichte darin hatte mich so beeindruckt, dass ich sie nie mehr vergessen habe.
Dem Autor Ray Monk zufolge glaubte Wittgenstein, nachdem er als Soldat im Ersten Weltkrieg seinen Tractatus geschrieben hatte, alle Probleme der Philosophie gelöst und das Thema für immer erledigt zu haben. Er trat eine Lehrerstelle in einem abgelegenen österreichischen Bergdorf an, erwies sich aber als ungeeignet für eine solche Tätigkeit. Streng, übellaunig, zuweilen brutal, schalt er seine Schüler unablässig und schlug sie, wenn sie ihren Stoff nicht gelernt hatten. Und es ging hier nicht um Prügel, wie sie an Schulen üblich waren, es ging um wütende Schläge ins Gesicht, derbe Fausthiebe, die einer Reihe von Kindern ernsthafte Verletzungen zufügten. Dieses empörende Verhalten sprach sich herum, und Wittgenstein sah sich gezwungen, aus dem Dienst zu scheiden. Jahre vergingen, mindestens zwanzig Jahre, wenn ich nicht irre; inzwischen lebte Wittgenstein in Cambridge, ein berühmter und angesehener Mann, der sich wieder mit Philosophie beschäftigte.
Aus Gründen, die mir entfallen sind, machte er eine geistige Krise durch und erlitt einen Nervenzusammenbruch. Während er sich davon erholte, kam er zu dem Schluss, dass er seine Gesundheit nur wiederherstellen konnte, wenn er in seine Vergangenheit zurückkehrte und sich bei jedem einzelnen Menschen entschuldigte, dem er jemals Schaden oder Unrecht zugefügt hatte. Er wollte sich von der Schuld reinigen, die in ihm schwärte, wollte sein Gewissen erleichtern und noch einmal von vorn anfangen. Naturgemäß gelangte er so auch in das kleine österreichische Bergdorf zurück. Seine ehemaligen Schüler waren jetzt erwachsen, Männer und Frauen Mitte bis Ende zwanzig, und doch war bei keinem von ihnen in all den Jahren die Erinnerung an den grausamen Lehrer verblasst.
Bei einem nach dem anderen klopfte Wittgenstein an und bat um Verzeihung für die unverzeihlichen Grausamkeiten, die er zwei Jahrzehnte zuvor begangen hatte. Vor einigen fiel er buchstäblich auf die Knie und flehte sie um Vergebung für seine Sünden an. Man sollte meinen, dass angesichts einer so aufrichtigen Zerknirschung jeder Mensch Mitleid für den leidenden Pilger empfinden und sich erweichen lassen müsste, doch tatsächlich war kein einziger seiner alten Schüler bereit, ihm zu verzeihen. Der Schmerz, den er ihnen bereitet hatte, war zu tief gegangen, und ihr Hass auf ihn überstieg jede Möglichkeit der Exkulpation.
Trotz allem war ich mir einigermaßen sicher, dass Rachel keinen Hass auf mich empfand. Sie war sauer auf mich, stocksauer, sie war frustriert, aber ich glaubte nicht, dass ihre Erbitterung stark genug war, uns auf Dauer zu spalten. Dennoch konnte ich nichts riskieren, und als ich schließlich die endgültige Fassung des Briefs beisammenhatte, war ich von tiefster Bußfertigkeit erfüllt. „Verzeih deinem Vater, dass er dir mit blöden Sprüchen gekommen ist“, fing ich an, „und dir Dinge gesagt hat, die er jetzt zutiefst bedauert. Du bist von allen Menschen auf der Welt derjenige, der mir am meisten bedeutet.