Farbe bekennen
Angie Thomas Zwischen schwarz und weiß: Die 16-jährige Starr lebt in zwei Welten
Die 16-jährige Starr lebt in einem Viertel, in dem man wissen muss, wie man sich der Polizei gegenüber verhält. Denn Starr ist schwarz. „Meine Eltern haben mir nicht beigebracht, die Polizei zu fürchten, sondern mich in ihrer Gegenwart einfach klug zu verhalten. Sie haben mir erklärt, dass es nicht klug ist, sich zu bewegen, während ein Cop dir den Rücken zudreht.“Kahlil, ihr Freund aus Kindertagen, weiß das offenbar nicht, denn bei einer Verkehrskontrolle wird der unbewaffnete Jugendliche von einem Polizisten erschossen. Starr, die mit ihm im Auto sitzt, ist die einzige Zeugin des Vorfalls.
Man kennt diese Geschichten aus den Schlagzeilen, vorwiegend aus den USA, wo Namen wie Michael Brown oder Trayvon Martin dafür stehen, wie Schwarze Opfer willkürlicher weißer Polizeigewalt werden. Die Amerikanerin Angie Thomas, selbst schwarz und aufgewachsen in Jackson im Bundesstaat Mississippi, füllt sie in ihrem Romandebüt „The Hate U Give“mit Leben. Stärke dieses Buches ist die Empathie für die Figuren, die dem Blick auf die komplexen Zusammenhänge nicht im Wege steht. Der Titel, aus dem Original unübersetzt übernommen, entstammt einem Song des Rappers Tupuc Shakur: „The Hate U Give Little Infants Fucks Everybody.“Etwas feiner drückte dies Astrid Lindgren in ihrer Friedenspreisrede im Jahr 1978 in jenem denkwürdigen Satz aus: „Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun.“Was Eltern ihren Kindern mitgeben und wie die Gesellschaft formt, auch davon erzählt dieses Buch mit seiner starken und einnehmenden Erzählerin Starr.
Denn das Mädchen lebt zwar im Schwarzen-Viertel Garden Heights, geht aber dank der Weitsicht ihrer Eltern und deren finanzieller Möglichkeiten in eine Privatschule in einem weißen Stadtviertel. Es sind zwei Welten, die Starr sorgfältig trennt: Da ist der MittelklasseSchulalltag mit weißen Freundinnen, die von Rassenkonflikten wenig wissen, und ihrem weißen Boyfriend, den sie vor ihrem Vater verborgen halten muss. Und dann ist da ihr Viertel, fest in der Hand von Drogendealern und rivalisierenden Bandenbossen, gefangen in der Spirale von Armut, Gewalt und Verbrechen. Angie Thomas setzt dieser Ausweglosigkeit Starrs Familie entgegen, in der gegenseitiges Verständnis und ein liebevoller Umgang miteinander herrschen: die Mutter, die als Krankenschwester einen gut bezahlten Job hat; der Vater, der für den Bandenboss ins Gefängnis gegangen ist, sich damit Sicherheit erkauft hat und mit einem Gemischtwarenladen eine Existenz ohne Kriminalität aufgebaut hat; der Onkel, der für Starr und ihre beiden Brüder zum Vaterersatz wurde.
Die Balance ihres bisherigen Lebens zerbricht durch den Tod des Freundes. Starr muss Farbe bekennen, wenn sie Khalil Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn sie dem Gerücht, dass er als Drogendealer unterwegs war, die Wahrheit entgegenhalten will. Ein Dilemma für Starr, denn damit verwischt nicht nur ihre Grenze, die sie zwischen Schule und Zuhause gezogen hat, sie gerät auch zwischen die Fronten von Polizeimacht und schwarzer Community. Vor allem aber erlebt Starr einen Zwiespalt ihrer Gefühle. Wenn sie aussagt, wie Khalil tatsächlich gestorben ist, gefährdet sie sich, ihre Familie und den Frieden in ihrem Viertel. Sie spürt die Angst vor den Konsequenzen und weiß um die Verantwortung, die sie hat.
All das beschreibt Angie Thomas mit großem Gespür für den richtigen Ton und die Gefühlslage junger Menschen. Schwarz und weiß ist dabei nur die Hautfarbe ihrer Figuren. Das macht dieses Buch so glaubwürdig, das macht es auch so bewegend. „The Hate U Give“erzählt einiges über den Rassenkonflikt in den USA, es ist darüber hinaus ein überzeugendes Plädoyer für Menschlichkeit, Toleranz und Gerechtigkeit.