„Alle haben Riesenprobleme“
Regisseur Michael Haneke über unsere Angst vor dem Verlust des Wohlstands, Propaganda und darüber, wie Filme dumm machen können
Zu Beginn von „Happy End“sieht man den Mord an einem Hamster als Handyvideo, kurz darauf folgt die episch breite Einstellung einer Großbaustelle, bei der eine Katastrophe passiert. Beide Szenen nehmen viel vorweg, worüber „Happy End“erzählt, und es sind typische Haneke-Momente, oder?
Michael Haneke: Da habe ich nichts dagegen, wenn Sie das so bezeichnen. Die Szenen sind richtige Aufwecker, die den Zuschauer wach rütteln sollen. Hier habe ich genügend Zeit, die Charakterzeichnung des jungen Mädchens, das dieses Video gemacht hat, unterzubringen. Man erfährt, dass sie sauer ist auf die Mutter. Nach dieser Einführung wollte ich ein starkes Gegenbild finden, und da die Familien- und Firmenstory ebenfalls mit einer Katastrophe beginnt, hat sich das angeboten, es an den Anfang des Films zu stellen. Ich wechsle von einer ganz engen in eine ganz weite Perspektive. Das ist eine ästhetische Überlegung.
Diese zwei Einstellungen zeigen: Es geht da etwas massiv den Bach runter. Haneke: Und das trifft ja auf unsere gesamte Gesellschaft zu. Wissen Sie, in meiner Jugend nach dem Krieg hatten alle – die Jungen wie die Alten – das Gefühl: Es wird alles besser. Und es wurde auch alles besser. Denn so schlecht, wie es einem vorher ging, konnte es ja nicht bleiben. Es war also ein großer Optimismus da. Wenn ich mich heute umschaue, egal in welcher Generation, habe ich nicht den Eindruck, dass viele denken, es wird alles besser. Ich habe eher den Eindruck, die Leute denken, es geht bergab. Also, was ich da beschreibe, ist eigentlich nur eine Bestandsaufnahme von dem, was sich mir darstellt.
Dabei hieß es immer, die jungen Generationen haben alle Chancen dieser Welt, aber das kommt als Gefühl bei den Menschen nicht an.
Haneke: Einerseits haben die Jungen heute mehr Chancen, weil der Wohlstand größer ist, andererseits ist der Druck auch viel größer, die Ausbildung ist besser, dadurch ist auch die Konkurrenz größer. All das wird empfunden, quer durch alle Milieus. Egal, ob die Leute mehr oder weniger Geld haben, alle haben Riesenprobleme. Das hat mit der Entwicklung des Abendlandes zu tun, es ist kein spezifisch deutsches Problem, auch kein französisches, aber der Film erzählt dieses Thema schon aus dem Blickwinkel reicherer Länder, und wir gehören ja zu den reichsten Ländern der Welt. Und trotzdem ist eine allgemeine Depression zu spüren. Oder zumindest kein Optimismus. Wenn ich mir die Erstarkung der Rechten anschaue, dann ist das ein Zeichen für all diese Ängste. Und das ist schlimm.
Ist das vielleicht sogar eine natürliche Entwicklung, denn wer Wohlstand hat, hat auch mehr zu verlieren? Haneke: Natürlich. Es gibt verschiedene Ursachen dafür. Laut einer Statistik sind in den letzten zehn Jahren mehr Menschen durch Selbstmord gestorben als durch Krieg und Verbrechen. Hätte ich mir nicht gedacht. Wenn man die Nachrichten sieht, denkt man, der Krieg wäre der größte Killer. Der kommt aber erst auf Rang drei. In der Selbstmordstatistik führen die reichen Länder, der Selbstmord ist auch eine Überfluss-Erscheinung, denke ich. Weil es nichts mehr gibt, wofür man kämpfen will. Man hat nur Angst, dass man das, was man hat, verliert. Davon nährt sich ja auch die Rechte. Gerade in den schwächeren EU-Ländern. Dort sagt man: Bitte nicht, wir sind gerade dabei, aufzubauen, da sollen nicht Fremde kommen, mit denen wir teilen müssen. Das ist verständlich, aber trotzdem dumm. Ohne EU ginge alles den Bach runter. Ich bin ein fanatischer Befürworter der EU, und weiß, dass das noch ein langer, mühsamer Prozess wird, aber unsere einzige Chance ist.
Der Blick ins Meer von Calais in Richtung Großbritannien könnte suggerieren, dass dort drüben das Happy End liegt, was sich ja für so viele Flüchtlinge tatsächlich so darstellt. Haneke: Sie können sich diese Interpretation gerne aussuchen, denn ich sage immer: Jeder Zuschauer hat mit jeder Interpretation recht. Was ich mir gedacht habe, ist relativ egal. Jeder Film existiert so oft, wie es Zuschauer gibt, weil jeder sieht einen anderen Film. Jeder liest auch ein anderes Buch. Das ist auch gut so. Deshalb wehre ich mich nie gegen Interpretationen meiner Filme, ich werde nur selbst niemals welche abgeben. Ist das das Lebendige an der Kunst? Haneke: Die Kunst findet ja für den Rezipienten statt, sonst wäre sie Masturbation. Film muss immer ein Dialog sein, sonst findet er nicht statt. Und zwar ein Dialog zwischen gleichwertigen Partnern, und nicht zwischen einem, der sagt, und einem, der es schluckt. Das wäre dann ein Propagandafilm. Mit Film kann man Leute auch sehr dumm machen, wie die Geschichte gezeigt hat. Nicht nur im NS-Film, sondern auch in Hollywood. Wer sich amerikanische Kriegsfilme ansieht, sieht permanente Propaganda. Dieses „America First“gehört zum Selbstverständnis dieser Nation. Das hat ja nicht der Herr Trump erfunden.
Inwieweit beschreibt „Happy End“die Flüchtlingskrise?
Haneke: Ich hatte mich geärgert, als zum Drehstart von „Happy End“alle geschrieben haben, Haneke dreht einen Film über Migranten. Ich könnte das gar nicht, weil ich von Migranten nichts weiß. Ich habe nicht mit ihnen gelebt, ich habe mich nicht einmal mit ihnen unterhalten. Sie sind nur Mittel zum Zweck für diese rotzige Familiengeschichte. Die Migranten sind Objekt, kommen als Subjekt gar nicht vor. Das könnte ich auch gar nicht, denn da müsste ich Klischees reproduzieren. Das interessiert mich nicht.
Was ist der Kern von „Happy End“? Haneke: Der wichtigste Faden ist die Empathielosigkeit, die es überall gibt. Innerhalb der Familie, zwischen den Familienmitgliedern, zu Partnern oder Untergebenen. Es geht um diese Nabelschau, die wir alle betreiben: Um die Fixiertheit auf unsere kleinen Problemchen, die wir für den Nabel der Welt halten, und alles andere ist uns letztlich wurscht.
Ist diese Egozenriertheit nicht auch überlebensnotwendig? Haneke: Ein bisschen Empathie kann nicht schaden. Es gibt ja auch Leute, die sich selbst realisieren, indem sie für andere etwas tun. Aber ja, diese Gesellschaft ist eine kapitalistische Konsumgesellschaft. Es ist nicht an mir, das gut oder schlecht zu finden, aber es ist an mir, das zu zeigen. Was mich wütend macht, und das zeige ich dann eben sarkastisch, ist die Heuchelei, die dabei stattfindet. Am Ende schaut jeder auf seine Schäfchen. Wenn einen die Ehefrau verlässt oder wenn die eigene Firma zugrunde geht, ist das ein wichtiges Ereignis in einem Leben. Aber gesamtgesellschaftlich ist es gemessen an den Tragödien, die in der Dritten Welt passieren, und die wir mitverursacht haben, keine Tragödie mehr. Wir haben nicht mehr das Recht auf eine Tragödie. Das haben wir verwirkt, als Gesellschaft.