Und aus dem Mercedes lugt die Rakete
Vor 50 Jahren verschwindet eine gefechtsbereite Lenkwaffe vom Fliegerhorst in Neuburg. Schnell ist klar: Spione müssen am Werk gewesen sein. Was folgt, ist eine aberwitzige Geschichte über großzügige Russen, Raketen auf dem Rücken und einen Oberfeldwebel,
Und da, ein meterlanger, schräger Schnitt im Zaun Sogar der Konditor kreierte eine zuckrige Geheimwaffe
Neuburg an der Donau
Es war ein geradezu lächerlicher Zufall, der den wohl sensationellsten Waffendiebstahl bei der Bundeswehr ans Licht brachte. Und das nur, weil Oberfeldwebel Maier von seiner Gattin in den familiären Kleingarten geschickt wurde, auf dem Fliegerhorst in Neuburg an der Donau. Er sollte Petersilie fürs Abendessen abschneiden. Der Garten war in tadellosem Zustand – was man vom Maschendrahtzaun nicht sagen konnte, der den Garten und drei Barackendepots umschloss. Ein meterlanger, schräger Schnitt ließ Maier stutzig werden. Er sah sich das Dilemma an, inspizierte die Umgebung und machte eine unheilvolle Entdeckung: An einem der Gebäude war ein Fenster eingeschlagen. Die Petersilie war vergessen. Denn in den Depots hatte die Bundeswehr Raketen gelagert. Und wie sich wenig später herausstellte, fehlte eine.
Der „Raketenklau von Neuburg“löste 1967 ein Erdbeben bis in die höchsten politischen Ebenen aus. Eine damals als „streng geheim“eingestufte Luft-Luft-Lenkwaffe des Typs „Sidewinder“war aus dem Arsenal des Luftwaffengeschwaders 74 verschwunden – und das mitten im Kalten Krieg, wo das Verhältnis der USA zu Russland von einem Tiefpunkt zum nächsten hastete und in Vietnam ein blutiger Krieg tobte. Deutschland kam in diesem Spiel der gegenseitigen Abschreckung und Einschüchterung durch seine zentrale Lage eine strategische Schlüsselrolle zu. Und plötzlich fehlte eine hochmoderne Waffe!
Karl Heinz Grontzki, 75, kann sich an diesen Tag noch gut erinnern. „Es herrschte eine große Aufregung und wir waren entsetzt.“Der Neuburger war damals Frachtgruppenleiter auf dem Fliegerhorst, das Sidewinder-Lager gehörte zu seiner Staffel. Schnell machten Verschwörungstheorien die Runde. Nicht nur die Rakete sei während des Kalten Krieges im Ostblock sehr begehrt gewesen, erzählt Grontzki, es gab auch den Verdacht, ein Kampfflugzeug der Bundeswehr sollte nach Russland entführt werden. Dass tatsächlich Spionage hinter dem Diebstahl steckte, wussten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Es dauerte ein Jahr, bis der Militärische Abschirmdienst drei Verdächtige festnehmen konnte: den Architekten Manfred Ramminger, den Starfighter-Piloten Wolf-Diethard Knoppe und den polnischen Schlossermeister Josef Linowski. Das Trio hatte nicht nur eine gefechtsbereite Rakete geklaut, sondern auch zwei Trägheitsnavigationsgeräte für einen Starfighter, das Herzstück der Flugzeugelektronik – und all das für den russischen Geheimdienst KGB. Was die Herren 1970 vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf zum Besten gaben, versetzte die Zuhörer immer wieder in schallendes Gelächter. Noch nie, so heißt es, hatte ein Spionageprozess einen derart hohen Unterhaltungswert. Selbst Senatspräsident Franz Weber kam nicht umhin zuzugeben: „Wenn es nicht so traurig und ernst wäre, müsste man über Ihre Geschichte laut und herzlich lachen.“
Drahtzieher des Raketenklaus war Ramminger. Vor Gericht erzählte der Krefelder, wie man zum Agenten der Sowjets werden kann, wenn man Geld braucht und keines hat. „Ich gebe zu, ich habe nie ganz bescheiden gelebt.“Schwierig wurde dieser Lebenswandel, als sein Baugeschäft pleite ging, er mehrfach den Offenbarungseid leistete und seine Schulden sich auf rund 250 000 Mark summierten. Da machte ihm sein Firmenschlosser Linowski den Vorschlag, „für die Russen zu arbeiten“. Achselzuckend sagte Ramminger vor Gericht: „Ich konnte mir nicht recht vorstellen, dass die Russen an meiner Arbeit interessiert sein könnten. Aber ich dachte mir, schaden kann es auch nicht, sich einmal mit ihnen zu unterhalten.“
Zunächst sollte der Architekt den Russen eine Futtermittelfabrik planen und bauen – für 200000 Mark. Euphorisiert von der Großzügigkeit seines Verhandlungspartners nahm Ramminger auch keinen Anstoß daran, dass die Russen ihn baten, gelegentlich militärische Geräte zu besorgen. Helfen könne ihm dabei doch sein Bekannter Knoppe, Starfighter-Pilot am Bundeswehrstützpunkt in Neuburg – also einer, der Zugang zu derlei Apparaten habe. „Mir ist es ein Rätsel, woher die von meiner Bekanntschaft mit Knoppe gewusst haben“, sagte Ramminger aus. „Wir kannten uns damals erst flüchtig.“Knoppe hatte dem Architekten ein Bauprojekt vermittelt, zusammen spielten sie Skat, machten „mal ein Prösterchen“. Ramminger erzählte den Russen bereitwillig, dass sein Bekannter geschieden sei, ein Pferd halte und sehr viel Geld gut gebrauchen könne. Zurück in Deutschland, köderte er Knoppe mit 20 000 Mark, bei dem Diebstahl mitzumachen.
Der Pilot war es auch, der in der Nacht des 26. April 1967 mit seinem Wagen in die Sperrzone des Flugplatzes fuhr. Mit im Kofferraum: Schlosser Linowski, der die Idee zum Kontakt mit den Sowjets hatte. Nach Mitternacht verließ er sein unbequemes Quartier und marschierte über den hell erleuchteten Flugplatz. Mit derselben Unbekümmertheit wie Ramminger erzählte er vor Gericht, wie er mit einer quietschenden Schubkarre die Halle verließ, darauf die beiden Navigationsgeräte, die zu schwer zum Tragen waren. Am Zaun wartete Ramminger auf das Diebesgut, das 780000 Mark wert war, und schickte es später per Luftfracht nach Moskau.
Bald erhielt Ramminger einen zweiten Auftrag: Er sollte für den KGB eine Sidewinder-Rakete stehlen. Erneut wurde Knoppe als Bundeswehr-Insider eingeweiht. Dieser wählte auch den perfekten Zeitpunkt für den Beutezug: die Nacht zum 20. Oktober 1967. Als aber der erhoffte Bodennebel ausblieb, verschob er die Aktion um einen Tag. „Da ist es dann besser gegangen“, gab Ramminger vor Gericht unumwunden zu. Das Wetter passte. Und: In jener Nacht waren die Wachhunde des Fliegerhorstes eingesperrt, weil auf dem Gelände giftige Köder gegen Ratten ausgelegt worden waren. So patrouillierten die Soldaten im dichten Donaunebel ohne ihre vierbeinigen Wächter.
Auch dieses Mal schickten Ramminger und Knoppe den Polen vor. Während der Pilot auf dem Fliegerhorst in Stellung ging, stieg Linowski über den Maschendrahtzaun und brach in den Barackenbunker ein, in dem die Rakete lagerte – gleich neben dem Petersilienbeet des Oberfeldwebels. Die 70 Kilo schwere Lenkwaffe konnte er aber allein nicht schleppen, Knoppe kam ihm zu Hilfe. Gemeinsam schulterten sie die gefechtsbereite Rakete und marschierten über den Flugplatz. Draußen wartete Ramminger mit seinem Auto, das sich allerdings als nicht raketenkompatibel erwies – der Mercedes war zu kurz für das drei Meter lange Geschoss. Kurzerhand schlugen sie die Heckscheibe ein und schoben die mit einem Teppich umwickelte Rakete ins Auto. So fuhr das Trio unbehelligt 500 Kilometer weit. Nicht einmal ein Tankwart schöpfte Verdacht wegen des „komischen Dings“, das da aus dem Wagen ragte.
In Krefeld dann zog man sich in Rammingers Garage zurück – wo der Schlosser, der viele Jahre als Bombenentschärfer gearbeitet hatte, die Sidewinder fachgerecht zerlegte. Ramminger nutzte den bewährten Weg, um die Rakete seinen Freunden in Moskau zukommen zu lassen: Er packte die Teile in einen Spezialkoffer, die Lufthansa transportierte sie per Luftfracht nach Moskau. Kostenpunkt: 317 Mark. Den Raketenzünder überbrachte Ramminger persönlich dem KGB. Er hatte ihn im Handgepäck.
Drei Tage später flog der Waffendiebstahl dank der Petersilien-Ernte auf – wobei die Führungsebene des Geschwaders anfangs noch die leise Hoffnung hegte, die Rakete könnte „verlegt“worden sein. Das Stammpersonal des Flugplatzes wurde zum Suchdienst verdonnert – auch Karl Heinz Grontzki. Alles, was die Männer fanden, war ein gelber Materialanhänger, wie er an jeder Rakete hing. Offensichtlich hatte er sich gelöst, als die Rakete durch den Zaun geschmuggelt worden war. Während der Militärische Abschirmdienst ermittelte, spekulierten sie in der Kaserne: Wer kann hinter einer solchen Tat stecken? Wie kann derjenige die Rakete unbemerkt mitnehmen? „Jeder hat jeden gekannt. Deshalb kamen wir nicht auf die Idee, dass es einer von uns sein könnte“, sagt Grontzki. „Ich war überrascht, dass so etwas überhaupt machbar ist.“Auch in der Stadt war der Raketenklau das Gesprächsthema – ebenso wie die laschen Sicherheitsbestimmungen auf dem Fliegerhorst. Der Neuburger Konditormeister Manfred Gerstner kreierte sogar eine zuckrige Geheimwaffe aus Marzipan, Kuchenteig und Schokolade, die für eine Mark das Stück reißenden Absatz fand. Als unbekannte Witzbolde dann noch ein Blechmodell der Sidewinder bastelten und an das Luftwaffendepot in der „Loch-im-Zaun-Straße“schickten, war der Spott perfekt.
50 Jahre später können die Soldaten des Taktischen Luftwaffengeschwaders über die Überwachungspraxis des damaligen Nato-Flugplatzes nur schmunzeln. „Dieser Diebstahl wäre heute definitiv nicht mehr möglich“, sagt der Sicherheitsbeauftragte, Hauptmann Jürgen Heinz. Nach wie vor seien auf dem Militärgelände scharfe Waffen für den Eurofighter gelagert, wenn auch deutlich weniger als damals. Inzwischen seien die Bunker alarmgesicherte Stahlbetonbauten ohne Fenster, zu denen nur ein kleiner Personenkreis Zugang habe. „Und wenn es Fenster gäbe, wären sie nicht einfach einzuschlagen.“
Im Oktober 1968 wurden Linowski und Ramminger festgenommen. Ein auf frischer Tat ertappter Ganove, den Linowski ursprünglich für den Diebstahl der Navigationsgeräte angeheuert hatte, verpfiff die beiden. Einige Wochen später wurde auch Knoppe überführt. Wohl nicht nur für Grontzki, den Frachtgruppenleiter, war es eine Überraschung. „Das hätte ich nie gedacht.“Er kannte Knoppe, hatte noch einen Tag vor dessen Verhaftung mit ihm über eine Änderung im Schichtbetrieb gesprochen. „Da hat er sich nichts anmerken lassen.“
Der Prozess gegen das Trio begann im September 1970. Während Ramminger zweifelsohne als Drahtzieher ausgemacht werden konnte, beteuerten Knoppe und Linowski bis zuletzt, von den KGB-Verbindungen nichts gewusst zu haben. Die Richter nahmen ihnen das freilich nicht ab. Es sei die pure Geldgier gewesen, so das Fazit, die sie zu „Werkzeugen der östlichen Geheimdienste“gemacht habe. Ramminger bekam für seine Dienste 296000 Mark. Davon hat er Linowski 76000 Mark und Knoppe 29 850 Mark abgegeben.
Ramminger und Linowski wurden zu vier Jahren, Knoppe zu gut drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Ihnen wurde Spionage und – nicht nur, weil so eine Rakete einiges wiegt – schwerer Diebstahl zur Last gelegt. Während Ramminger und Linowski wegen Fluchtgefahr in Haft blieben, kam Knoppe unmittelbar nach dem Prozess frei. Als Privatpilot wollte er einen Neuanfang in Hamburg machen. Er veröffentlichte ein Buch über den Raketen-Coup und lebte zuletzt nahe Hamburg. 1971 wurden auch die anderen beiden vorzeitig entlassen. Ramminger ging nach Krefeld zurück, arbeitete wieder als Architekt. Dort starb er 1997. Was aus Josef Linowski wurde, ist nicht bekannt.
Es ist aber anzunehmen, dass er am 20. Dezember 1975 vor dem Fernseher saß und sich um 20.15 Uhr einen Film von Dieter Wedel ansah. In der Komödie „Die Rakete“ging es um drei Amateur-Agenten, die für den KGB eine Luftwaffe stehlen sollten und das auf abenteuerlich einfache Weise auch schafften. Vielleicht kam ihm diese Geschichte irgendwie bekannt vor ...