Die Glücklichen
Nirgendwo im Land lassen sich so wenig Paare scheiden wie in Kempten. Woran liegt es, dass die Ehen hier so lange halten? Eine Geschichte über Manu und Manu, ungewöhnliche Liebesbeweise und das besondere Wesen des Allgäuers
Manchmal, frotzelt er, habe er über Mord nachgedacht Der Pfarrer sagt: Man muss streiten und sich versöhnen
Kempten
Manchmal begegnet einem das Glück in Kempten ausgerechnet an der Mülltonne. Dort jedenfalls kommen wir an diesem Morgen rein zufällig mit Helmuth Geiger ins Gespräch. Der 77-Jährige bringt gerade den Unrat nach draußen, während seine Frau im Dachboden die Wäsche aufhängt. Arbeitsteilung, so wie das im besten Fall eben ist im Zusammenleben zwischen Mann und Frau. Vielleicht sind die Geigers ja ein gutes Beispiel für das, was man „glücklich verheiratet“nennt. Und vielleicht wissen sie ja, welches Geheimnis hinter den Ehen hier steckt. Denn in Kempten sind die so stabil wie nirgendwo sonst im Land. Sagt zumindest die Statistik. Danach hat die größte Stadt des Allgäus die niedrigste Scheidungsrate bundesweit. 2015 wurden hier 347 Ehen geschlossen, aber nur 32 geschieden. Also, wie ist das hier, wo die Treue daheim ist?
Helmuth Geiger jedenfalls ist stolze 57 Jahre mit seiner Gerda vermählt, wie er jetzt, an der Mülltonne, bekennt. Das Wetter an diesem Morgen ist nass und ungemütlich. Für Geiger also keine Frage, dass er die neugierigen Zeitungsleute umgehend auf eine Tasse Kaffee in die blitzblank aufgeräumte Wohnung bittet. Und da erschrickt man erst mal, wenn man den Eheleuten so zuhört. „Ich habe sie bloß geheiratet, damit sie von der Straße weg ist“, sagt Geiger. Und dass das eine typische Allgäuer Erklärung sei. Dann setzt er weiter sein ernstes Gesicht auf und frotzelt: „In den 57 Jahren habe ich übrigens mehrmals über Mord nachgedacht.“Dann grinst der Mann, der früher Fallschirmjäger bei der Bundeswehr war und dann als Fahrer beim Konzern Unilever arbeitete.
„Man muss halt Humor haben“, meint seine Frau. „Der ist immer wichtig.“Lustig ging es in ihrer Ehe nicht immer zu. Gerda, 78, hatte vor Jahren einen Hirntumor, lag elf Monate im Wachkoma. Für ihren Mann war es eine Selbstverständlichkeit, sich um seine Frau zu kümmern. Er ging in Ruhestand, pflegte sie daheim, bis sie wieder gesund war. Und als Helmuth vor kurzem einen Herzinfarkt hatte, stand ihm halt seine Gerda zur Seite.
Aber wie kommt es nun, dass es ausgerechnet in Kempten die wenigsten Scheidungen gibt? Für Helmuth Geiger, der in der Stadt geboren ist, liegt das auf der Hand: „Wenn ich hier aus dem Haus gehe, dann ist das für mich wie Urlaub.“Kempten liege inmitten einer wunderschönen Landschaft, die Alpen sind nah, der Freizeitwert hoch. In einer solchen Umgebung sei es kein Wunder, wenn sich die Menschen wohlfühlen und zusammenbleiben, sagt er.
Dass es bei den Geigers so weit gekommen ist, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn schließlich hatte Helmuth bei den ersten Annäherungsversuchen einen Fauxpas begangen: „Ich hatte sie zu einem Drink eingeladen, damals in die Kemptener ,Kupferkanne‘ – und dann hatte ich gar kein Geld dabei.“Gerda, eine gebürtige Banatdeutsche, die nach dem Krieg nach Kempten kam, übernahm die Zeche – und blieb bis heute an seiner Seite.
Gut möglich, dass die Büttners in ein paar Jahrzehnten auch solche Anekdoten aus ihrer Ehe erzählen können. Die Geschichte, wie sich die beiden kennengelernt haben, ist jedenfalls auch ganz amüsant. Das war vor anderthalb Jahren, beim Skifahren in Tirol. Da haben sich beide mit „Manu“vorgestellt. Sie heißt Manuela, er Manuel. Ausgerechnet. „Das haben wir aber als gutes Zeichen aufgefasst“, sagt Manuel Büttner. Vor einem Monat haben die beiden geheiratet, das Braut- kleid hängt sogar noch in der Wohnung.
Der gebürtige Münchner, der als Gewerkschaftssekretär bei Verdi arbeitet und schon in Augsburg gewohnt hat, findet Kempten ideal: „Es ist ländlich und zugleich städtisch.“Da könne man vielen gemeinsamen Interessen nachgehen – ein gutes Rezept für eine lange Ehe, wie beide meinen. Die Büttners gehen natürlich zusammen Skifahren. Und Manuel, 28, hat extra Reiten gelernt, aus Liebe zu seiner Manuela. „Wir sind beide sehr lebensfroh und wollen das bleiben“, erklärt die 34-Jährige. Zudem stehen vielleicht noch große gemeinsame Aufgaben an. „Wir wollen bald Kinder. Zwei sind mal zunächst angedacht.“
Erst einmal wollen sie noch von der standesamtlichen Hochzeit erzählen. „Es war ein traumhafter Tag“, schwärmt Manuel Büttner. Das Paar heiratete im kleinen Kreis im benachbarten Wildpoldsried. Warum denn dort? „Wir haben vor- 30 Standesämter abtelefoniert, aber nur dort war etwas frei“, sagt Manuel Büttner. An diesem Tag hat er zum ersten Mal mit seinem neuen Namen unterschrieben – dem seiner Frau. Vorher hieß er Manuel Mayr. Die kirchliche Hochzeit wollen sie noch nachholen, sagt er. 140 Gäste sollen dann kommen.
Auch die Wegscheiders hatten im September Grund zu feiern – Silberhochzeit. Das Besondere bei den Eheleuten: Sie arbeiten auch den ganzen Tag zusammen. Hannes Wegscheider ist der Konditormeister des Kemptener Residenzcafés, seine Frau Sabine steht an der Theke. Wie klappt das? „Wir haben keine Zeit zum Streiten, weil wir die ganze Zeit arbeiten“, sagt Hannes Wegscheider, 52, und muss dabei schmunzeln. Seine Frau Sabine, 51, nickt. „Wenn wir Reibereien haben, dann bezieht sich das meist aufs Geschäft.“Aber dass man da mal unterschiedlicher Ansicht ist, sei ja normal. Sabine Wegscheider kommt täglich mit vielen Kemptenern ins Gespräch. Warum ausgerechnet hier das Eheglück so stabil ist wie nirgendwo sonst, darüber kann auch sie nur spekulieren. Dass es so ist, glaubt sie sofort: „Wir haben einen großen Freundeskreis – aber da gibt es keinen, der sich hat scheiden lassen.“Und was ist ihr persönliches Geheimnis? Wie führt man eine stabile Ehe, trotz der vielen Arbeit, die das Café mit sich bringt? Da sind sich beide einig: „Es ist eben die große Liebe.“
Große Liebe, Zeit zusammen verbringen, gemeinsame Interessen – alles richtig. Aber ist da nicht noch etwas, was es für eine glückliche Beziehung braucht? Zweisamkeit, Nähe, Sex? Wir fragen Beate Quinn, die in der Stadt eine Praxis als Paarund Sexualtherapeutin betreibt. So mancher kennt sie aus der
„Hochzeit auf den ersten Blick“, wo sie seit vier Jahren auftritt. „Sexualität und Intimität gehören natürlich zu einer glückliher chen langfristigen Liebesbeziehung“, sagt die 50-Jährige. Zwar sei es bekannt, dass sexuelle Aktivität in Beziehungen nach zwei bis fünf Jahren abnimmt. Wenn es dann Differenzen gebe, müsse man darüber sprechen, einen gemeinsamen Nenner finden. Und wie ist das mit zunehmendem Alter, wenn mancher Mann nicht mehr so recht kann, manche Frau vielleicht nicht mehr so recht mag? „Auch wenn es im Bett mal nicht mehr so läuft, der Austausch von Zärtlichkeiten bleibt wichtig für eine Beziehung – auch ohne Sexualität.“Doch wie geht das genau? „Etwa durch Umarmungen, Streicheleinheiten, sich eng aneinander kuscheln, küssen und dadurch, dass man dem anderen gegenüber aufmerksam ist.“
Auch Quinn hat eine Erklärung für das Eheglück in der Stadt – das Wesen der Allgäuer. „Im Allgäu ist man traditionsbezogen und mit seiner Kultur und dem Land verbunden. Auch wenn das Rad der Zeit sich im Allgäu heute schneller zu drehen scheint, so haben sich die Menschen hier ihre Ursprünglichkeit und das Traditionelle erhalten“, sagt sie. „Diese gemeinsam gelebten Werte verbinden.“Ist die Scheidungsrate einmal niedrig, wirkt sich das positiv auf die Umgebung aus. Das heißt im Umkehrschluss: „Scheidungen sind ansteckend.“Das hätten Wissenschaftler herausgefunden. „Lässt sich einer unserer Freunde scheiden, steigt unsere eigene Scheidungswahrscheinlichkeit um 75 Prozent“, erklärt Quinn.
Anruf beim Kemptener Oberbürgermeister Thomas Kiechle, der auch schon seit 25 Jahren verheiratet ist. Seine Erklärung für das stabile Eheglück in der Stadt? Auch Kiechle argumentiert mit der Mentalität der Menschen: „Der Allgäuer will eine gewisse Beständigkeit in seinem Leben. Eine einmal getroffene Entscheidung bleibt in der Regel“, sagt der 50-Jährige, der mit seiner Frau Ulrike, 49, drei Töchter hat. „Außerdem gilt der Allgäuer ja als mundfaul.“Das passe doch zur Ehe: „Da muss man ja auch mal zuhören“, meint der CSU-Politiker, der selbst ein eher ruhiger Typ ist.
Das mag ja alles sein. Nur: Ist eine lang andauernde Ehe automatisch auch eine glückliche? Oder ist es vielleicht so, dass man auf dem Land nicht so einfach auseinandergeht, auch wenn es nicht mehr gut läuft? Dass man das selbst heutzutage nicht macht – die Sache mit der Trennung und der Scheidung? Weil es sich nicht gehört?
Es sind Fragen, die keiner beantworten kann. Auch der evangelische Dekan Jörg Dittmar nicht. Denn sein beruflicher Alltag hat vor allem mit der anderen Seite zu tun – der Eheschließung. Etwa 50 Hochzeiten werden in der St.-Mang-Kirche jedes Jahr gefeiert, einige davon übernimmt der Dekan persönlich. Dabei weiß Dittmar, dass das glückliche Vorleben der Eltern als Guthaben in eine lange Ehe eingehen kann. „Ehen brauchen Befürworter, Begleiter und Berater.“
Dittmar ist auch selbst verheiratet – seit sechs Jahren mit seiner Nadine, die beiden haben zwei Töchter. Für manche in Kempten sind sie ein ungewöhnliches Paar. Schon, weil er 48, sie erst 26 ist. Er der Dekan, sie die junge Frau, die nach der Babypause weiter Theologie studieren will. Natürlich herrscht auch im Hause Dittmar nicht immer eitel Sonnenschein. „Eine gute Beziehung braucht den Mut zu streiten und alles daranzusetzen, sich zu versöhnen“, sagt er. Seine Frau bringt es auf eine einfache Formel: „Reden, reden, reden und Zeit zu zweit.“Und dann gibt es noch einen Tipp: „Den anderen immer wieder überraschen, durch Gesten, mit Blumen, Konzertkarten, Frühstück oder einem Abend zu zweit.“
Die beiden stammen aus Aschaffenburg und Bayreuth, haben sich im Allgäu verliebt. „Kempten ist städtisch, aber man kennt sich noch. Hier verliert man sich nicht in Anonymität“, sagt Nadine Dittmar. Sie schätzt das kulturelle Angebot: „Wir gehen einmal die Woche zum Tanzen, am liebsten Foxtrott.“Ihr Mann schwärmt von der „atemberaubenden Landschaft“, wie schnell man in der Natur ist: „Kempten ist eine schöne, gemütvolle Stadt.“
Aber ob das alles als Erklärung für die niedrige Scheidungsrate Kemptens ausreicht? Oder hilft ein Blick auf die andere Seite der Republik, nach Emden? Wie Kempten ebenfalls eine schöne Stadt, eher ländlich gelegen in einer herrlichen Umgebung, in Ostfriesland. Eigentlich vergleichbare Rahmenbedingungen wie im Allgäu. Dort aber ist die Scheidungsrate die höchste im Land. Woran das liegen mag? Wer weiß das schon. Schließlich ist ja jede Ehe einzigartig. Und auch jede Scheidung.