„Unsere Patientenzahlen explodieren“
Immer mehr Kinder und Jugendliche brauchen psychologische Hilfe. Oberärztin berichtet aus ihrem Berufsalltag
Landkreis Wenn Eltern, Erzieher oder Lehrer im Landkreis bei schwierigen Kindern nicht mehr weiterwissen, landen sie fast zwangsläufig irgendwann bei Oberärztin Angelika Voack-Betz und ihren Kollegen von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Nördlingen. „Bevor wir gestartet sind, gab es gar kein solches Angebot. Einen ambulanten Kinder- und Jugendpsychiater gibt es nach wie vor im gesamten Landkreis nicht, weswegen alle zu uns kommen. Unsere Patientenzahlen explodieren“, sagt Voack-Betz. Die Klinik in Nördlingen ist eine Außenstelle des Josefinums in Augsburg. Beim Start im Jahr 2003 waren es vier Mitarbeiter, inzwischen sind es mehr als 20. Neues Personal zu gewinnen, gestaltet sich laut der Oberärztin schwierig.
Im Jugendhilfeausschuss des Landkreises gab sie einen Einblick in ihre Arbeit. Die Palette der Patienten, die in Nördlingen betreut werden, ist groß. Sie reicht vom Erstklässler, der Mitschüler mit dem Gürtel verprügelt, über Kinder, die andere beißen, und jene, die sich einfach allem verweigern, bis hin zu Kindern mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Autisten. Bei letztgenannter Gruppe sei ein besonders deutlicher Anstieg zu beobachten. „Wir wissen aber auch nicht, woran das liegt“, sagt die Medizinerin. Das Problem bei Autisten ist laut VoackBetz, dass sie Aussagen oder Gesten falsch deuten und es deswegen immer wieder zu Konflikten kommt.
Dass der Bedarf in den vergangenen Jahren massiv gestiegen sei, zeige sich auch bei den Ansprechpartnern beim Jugendamt, so die Oberärztin. „Anfangs kannte man die Mitarbeiter alle, das ist nicht mehr der Fall, weil es immer mehr geworden sind.“Leistungen wie einen Familienbeistand oder einen Schulbegleiter müssen beim Jugendamt beantragt werden. Sie wisse, dass die beantragten Leistungen teuer seien, aber „der Bedarf und die Not sind groß“, so Voack-Betz.
Trotz der personellen Aufstockung in der Klinik und beim Jugendamt laufen sie der Entwicklung hinterher. Dabei werden an der Klinik in Nördlingen leichte Fälle sogar abgewiesen, berichtete die Medizinerin. Mangel herrscht auch anderenorts, beispielsweise bei den verfügbaren Betreuungsplätzen in einer heilpädagogischen Kindertagesstätte. Etwa ein halbes Jahr betrage die Wartezeit, lange, wenn dringender Handlungsbedarf besteht, so die Psychiaterin. Erschwerend komme hinzu, dass die aktuellen Entwicklungen im Bildungssystem für Kinder mit ADHS und Autismus schwierig seien. Dort werde vermehrt auf freies Lernen und jahrgangsübergreifende Klassen gesetzt, dabei bräuchten diese Kinder klare Strukturen.
Eine Baustelle sind laut der Expertin aber nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern. Es gebe die Engagierten, bei denen der Akku irgendwann leer sei, „weil alles ein Kampf ist“, und es gebe jene, die sich nicht ausreichend um ihren Nachwuchs kümmerten. Da würden die Kinder stundenlang vor dem Fernseher oder Computer geparkt, um Ruhe zu haben, oder sie bekämen kein Frühstück oder wenigstens etwas zu essen mit in die Schule. „Das ist ein riesiges Problem, weil sie die verschriebenen Tabletten nicht auf nüchternen Magen nehmen dürfen.“Hier sei eine aufsuchende Hilfe in den Familien sehr wichtig, betont sie.
Landrat Stefan Rößle sagte angesichts des Berichtes von Angelika Voack-Betz, dass in den vergangenen Jahren viel Geld für zusätzliches Personal im Jugendamt sowie Maßnahmen bereitgestellt worden sei, es aber „wohl nie reichen wird, auch wenn wir den Etat immer weiter erhöhen.“Er kündigte zudem an, sich dafür starkmachen zu wollen, dass sich ein ambulanter Kinder- und Jugendpsychiater im Landkreis niederlässt. Das Thema komme bei der Versorgungskonferenz der Gesundheitsregion plus Donau-Ries Anfang 2018 mit auf die Agenda, sagte der Landrat.