Die perfekte Tasse Tee
Spätestens in der kalten Jahreszeit entdecken wir unser Liebe zum warmen Genießen wieder. Für die Briten gilt die Teekultur noch immer als Nationalheiligtum mit festen Regeln. Die sind allerdings bis heute heiß umstritten
Die perfekte Tasse Tee ist eigentlich kein großes Geheimnis, meint zumindest Ian Brown von der Northumbria Universität in Newcastle: 200 Milliliter frisch aufgekochtes Wasser in eine Tasse mit einem Teebeutel geben, zwei Minuten ziehen lassen, Teebeutel entfernen, zehn Milliliter Milch hinzufügen – und dann sechs Minuten warten, bis die optimale Trinktemperatur von 60 Grad Celsius erreicht ist. Fertig. Was sich hier so leicht liest, löst bei den Traditionalisten unter Großbritanniens Teeliebhabern wahre Stürme der Entrüstung aus.
Einen Teebeutel verwenden? Wie kann man nur? „We are not amused!“, würden echte britische Royalisten wohl an dieser Stelle sagen. Aber hat es sich der Ernährungswissenschaftler aus Newcastle wirklich zu einfach gemacht, wie die Kritiker einwenden, denn schließlich geht es hier ja um nichts Geringeres als um ein britisches Nationalheiligtum? Allein schon die Frage, wann die Milch in die Tasse eingefüllt werden sollte, sofern Milch denn überhaupt zulässig ist – vor dem Tee oder doch besser erst danach – entzweit die Nation bis heute.
Ganz so einfach scheint die Sache dann auch wirklich nicht zu sein. Zwar werden in Großbritannien auch heute noch einige geradezu „goldene“Regeln der Teezubereitung ehrfurchtsvoll von Generation zu Generation weitergereicht, aber dass manche davon inzwischen längst ihre Berechtigung verloren haben, wird dabei gerne übersehen. Jeder Teeliebhaber wird zwar auch jetzt noch mit Joseph M. Walsh übereinstimmen, wenn dieser in seinem Grundlagenwerk über die hohe Kunst der Teezubereitung („TeaBlending As A Fine Art“) von 1896 eindringlich davon abrät, Gefäße aus Zinn zu verwenden.
Aber schon Walshs nächste Regel ist heute mit einiger Vorsicht zu genießen, wenn er dazu rät, für einen „nicht zu starken Tee“pro Viertelliter Wasser „etwa einen Teelöffel voll Tee“zu verwenden. Wenn Walsh von Tee spricht, dann meinte er damals ganz selbstverständlich „Teeblätter“, von denen ein gehäufter Teelöffel voll etwa drei bis vier Gramm wiegen. Ein Teelöffel zerkleinerten heutigen Broken-Tees bringt aber schnell das Doppelte auf die Waage, und nicht nur das. Aufgrund der viel größeren Oberfläche des Broken-Tees, auf die das Wasser einwirken kann, ist auch die Ziehzeit eine ganz andere.
„Chinesische und japanische Tees brauchen etwa acht bis zehn Minuten, verlangen danach aber auch nach etwas Milch und Zucker“meinte Walsh 1896, wohingegen „Tees aus Indien, Java und Ceylon generell nicht länger als fünf bis sieben Minuten ziehen sollten“. Bei diesen Zeiten riet der Fachmann wohlweißlich schon einmal zu einer „Extraportion“Milch und Zucker. Heute lässt man Ganzblatt-Tees aus dem Hochland von Java und Ceylon zumeist nur etwa halb so lange ziehen. Broken-Tee hingegen können schon nach einer knappen Minute genussfertig sein, je nach Mischung auch nach zwei, drei Minuten.
Im Vergleich zeigt sich aber auch, dass die Briten damals wie heute einen eher kräftigeren (Schwarz-)Tee bevorzugen, den sie allerdings gerne mit Zucker und Milch abmildern. Wobei wir beim Kern des Problems ankommen: Darf man den Tee mit Zucker und Milch trinken, und falls ja, wann fügt man beides hinzu?
Der britische Schriftsteller und Journalist George Orwell weist in seinen bis heute viel beachteten „goldenen Regeln“für eine „nette“Tasse Tee schon in den Vierzigerjahren darauf hin, dass Zucker im Tee dazu führen kann, dass man vor lauter Süße den Tee nicht mehr schmeckt, und rät aus diesem Grund auch rigoros von Zucker ab. „Ich weiß natürlich sehr gut,“kommt Orwell Kritikern zuvor, „dass ich damit hier in der Minderheit bin.“
Nun könnte man ja meinen, dass es sich mit der Milch eigentlich ähnlich verhalten müsste wie mit dem Zucker – viele Teeliebhaber sehen das in der Tat so und genießen ihren Tee ohne Zucker und auch ohne Milch. Orwell allerdings rät zu einem guten Schuss Milch. In Bezug auf diese für ihn sehr wichtige Zutat zählt sich George Orwell selbst zur „Tea-first-school“, plädiert also dafür, zuerst den Tee in die Tasse zu geben, und erst danach die Milch hinzuzufügen. Orwell wusste, dass es sich hier um ein äußerst heikles Thema handelt, denn schließlich gebe es in absolut jeder Familie in England Befürworter der einen wie auch der anderen Seite. Wird der Tee zuerst in die Tasse eingefüllt“, ist Orwell überzeugt, „lässt sich die Milch anschließend viel einfacher dosieren und von der Menge her genau auf den Tee abstimmen“.
Ein wichtiges Argument der konkurrierenden „Milk-first-school“ist dann auch schon zu Orwells Zeiten hinfällig: Ursprünglich hatte die kühle Milch in der Tasse nämlich einmal die Aufgabe, den später hinzugefügten heißen Tee augenblicklich abzukühlen, damit das kostbare feine und hauchdünne chinesische Porzellan nicht auf der Stelle in tausend Teile zersprang. Heutzutage allerdings dürften wohl nur noch die allerwenigsten Menschen ihren Tee aus uralten chinesischen Porzellantassen genießen, und somit zieht dieses Argument heute nicht mehr. Dennoch gibt es auch heute noch einen guten Grund, die Milch vor dem
George Orwell zerbrach sich den Kopf über Milch im Tee
Tee in die Tasse einzufüllen, wie Andrew Stapley von der Northumbria-Universität weiß.
Die Proteine der Milch können mit ihren langen Ketten die Tanninmoleküle des Tees nämlich praktisch einwickeln und ihm so die Bitterkeit nehmen: „Wird die Milch nun aber in den heißen Tee gegeben, denaturiert die große Hitze die Proteine der Milch und sie verlieren so ihre Einbindungskraft“, sagt Stapley. „Gießt man aber umgekehrt den heißen Tee in die kalte Milch, dann ist die Mischung zunächst noch nicht warm genug, um die Proteine zu denaturieren und so neutralisieren sie das Tannin und die Bitterkeit verschwindet.“
Ganz ohne Wirkung bleibt die Milch aber auch beim Gießen in den heißen Tee nicht, denn schließlich verdünnt sie die Menge des Tees in der Tasse, und somit auch bis zu einem bestimmten Grad die Bitterkeit. Kein Wunder also, dass Stapley mit seiner Äußerung sofort auf wortwörtlich „erbitterten“Widerstand der „Tea-first-school“trifft.
„Die Temperatur des Wassers ist entscheidend“, wendet Julia King von der britischen Universität von Aston ein, „auf die Milch kommt es dabei überhaupt nicht an.“
Eine köstliche Diskussion, very british. Unterm Strich bleibt die Erkenntnis, dass sich über Geschmack sehr schön streiten lässt, vor allem in Großbritannien.