Hinter der Fassade der Ski Glitzerwelt
Skifahren ist Nationalsport in Österreich. Entsprechend heftig haben die Missbrauchsvorwürfe zweier früherer Athletinnen eingeschlagen. Wir haben mit einer gesprochen: Nicola Werdenigg. Sie erzählt, was ihr passiert ist und warum sie so lange geschwiegen
Wien Was sie zu sagen hat, passt nicht in diese Welt. Nicht in eine Welt, in der Skifahren alles ist. In der Männer wie Karl Schranz, Franz Klammer, Hermann Maier und Marcel Hirscher Heldenstatus haben; Männer, die das nationale Selbstwertgefühl geprägt haben. Eine Welt, die mit ihren Bergen, Pisten und Skiliften Kulisse ist für Millionen Touristen, die jedes Jahr ins Winterwunderland Österreich kommen und Milliarden Euro mitbringen. In diese heile Welt also platzt Nicola Werdenigg, 59, frühere Skirennläuferin, nationale Meisterin im Abfahrtslauf 1975, und sagt: „Ein Teamkollege hat mich vergewaltigt.“
Österreichs (Ski-)Welt ist aus den Fugen geraten seit dem Interview, das sie vor einigen Wochen der Tageszeitung gegeben hat. Die Frau hat Zuspruch erfahren und offene Ablehnung. Mittlerweile haben sich mehr als 40 Sportler und Sportlerinnen gemeldet, die ebenfalls sagen, Opfer von sexueller Gewalt geworden zu sein; die einen vor vielen Jahren, andere erst in jüngster Vergangenheit. Der Österreichische Skiverband (ÖSV) wiederum sieht seinen guten Ruf und den seiner Einrichtungen gefährdet. Und eine frühere Teamkollegin, Ski-Legende Annemarie MoserPröll, 65, lässt sich zu der Äußerung hinreißen: „Ich hätte mich zu wehren gewusst.“Sie bedauere es, dass Trainer und Betreuer „jetzt in ein schlechtes Licht gerückt werden“.
Um also im Bild dieser so beliebten Wintersportart zu bleiben: Nicola Werdenigg hat eine Lawine ins Rollen gebracht. Das ganze Land redet über die Frau aus Innsbruck, die in der Szene unter ihrem Mädchennamen Nicola Spieß bekannt wurde. Die Mutter 1948 zweimal in St. Moritz, der Vater einst Trainer des FrauenWeltcupteams, sie selbst schon mit 14 im Nationalkader. 1976, bei den Olympischen Winterspielen in ihrer Heimatstadt, hat sie in der Abfahrt als Vierte nur um 21 Hundertstelsekunden eine Medaille verpasst. Damals haben viele über sie geredet. Jetzt reden alle über sie. In den paar Wochen seit dem Interview ist auch ihre eigene Welt auf den Kopf gestellt worden. Für ein Treffen, sagt sie, habe sie keine Zeit. Aber für ein längeres Telefonat. Was also, Frau Werdenigg, ist damals passiert?
Sie fängt an zu erzählen: „Als ich 16 Jahre alt war, haben mich zwei Männer unter Alkohol gesetzt, einer der beiden hat mich vergewaltigt. Das hat mich jahrelang gedrückt. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen, weil ich mich so geschämt habe. Weil das auch ein Mannschaftskollege war. Ich habe mir die Schuld gegeben, wie es junge Frauen oft machen, weil ich mich habe ansaufen lassen.“
Das allein sind schwere Vorwürfe. Aber es ist noch nicht alles. Immer wieder, sagt sie, habe sie in all den Jahren im Verband sexuelle Übergriffe erlebt – von Trainern, Betreuern, Kollegen und Serviceleuten. Wer „nicht mitspielen wollte, brachte seinen Startplatz in Gefahr“, erzählt die Mutter von drei erwachsenen Kindern, die inzwischen auch Großmutter ist und heute in Wien lebt. Am Dienstag vergangener Woche hat sie der Staatsanwaltschaft Namen von Tätern genannt. Die Behörde ermittelt nun. „Seitdem fühle ich mich befreit“, sagt sie. Bislang ist kein Name nach außen gedrungen.
Warum aber ist Nicola Werdenigg erst jetzt, nach mehr als 40 Jahren, mit ihren Vorwürfen an die Öffentlichkeit gegangen? Den letztendlichen Anstoß, sagt sie, hätten die weltweite #MeToo-Kampagne nach den Missbrauchsvorwürfen gegen den US-Filmproduzenten Harvey Weinstein sowie Berichte über einen österreichischen Volley- balltrainer gegeben, der elf Jahre lang Kinder missbraucht und pornografische Bilder ins Netz gestellt hat. Außerdem: Hätte sie damals, mit 16, sofort darüber geredet, wären ihre Karriere und ihr gesamtes soziales Umfeld zerstört gewesen, sagt sie. „Wäre ich auf der PraterHauptallee überfallen worden, wäre ich sofort zur Polizei gegangen. Doch das waren meine Freunde.“
Freunde? Wer waren diese Männer? Werdenigg, die heute als Skilehrerin arbeitet und eine Kommunikationsagentur betreibt, weicht aus. Sie wolle selbst keine Namen öffentlich machen, weil die meisten Taten verjährt seien. „Ich will niemanden bloßstellen.“
So oder so ist die Geschichte jetzt in der Welt. Die Unruhe ist groß, vor allem beim Skiverband. Peter Schröcksnadel, 76, seit 27 Jahren ÖSV-Präsident, hat Werdenigg gleich als Nestbeschmutzerin hingestellt. Sie solle dem Verband Namen nennen, andernfalls werde sie angezeigt, drohte er in einem Interview. Als es daraufhin Kritik hagelte, zog Schröcksnadel die Forderung zurück und beauftragte die ehemalige steirische Landeschefin der konservativen Partei ÖVP, Waltraud Klasnic, damit, eine Opferschutz-Hotline einzurichten und die Fälle zu untersuchen. Klasnic hat in Österreich auch die Kommission zur Aufklärung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche geleitet. Nicola Werdenigg und andere ExOlympia-Dritte Skifahrer fordern dagegen, dass Opfer die Möglichkeit bekommen sollen, sich an eine unabhängige Stelle wie den „Weißen Ring“zu wenden.
Seit die gebürtige Tirolerin ihre Geschichte zum ersten Mal erzählt hat, häufen sich die Berichte anderer Betroffener. Ein Damm scheint gebrochen. Gerade erst ist ein Trainer der Ski-Akademie in Schladming vom Dienst freigestellt worden. Er soll noch Ende November einen Schüler sexuell missbraucht haben. Außerdem ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen zwei ehemalige Lehrer an der Ski-Mittelschule Neustift im Stubaital in Tirol.
Dann gibt es den Fall der britisch-schweizerischen Journalistin und ehemaligen Skiläuferin Helen Scott-Smith. Die hat ebenfalls im
Standard erzählt, im Jahr 1993 vom Servicemann eines österreichischen Skiläufers vergewaltigt worden zu sein. Überhaupt: In den siebziger Jahren seien im Ausland österreichische Trainer dafür bekannt gewesen, sich an Sportlerinnen zu vergehen. „Die Trainer haben sich die 15 bis 20-jährigen Mädchen aufgeteilt. ,Fresh meat‘ haben sie sie genannt, und da haben sie sich bedient“, sagt Scott-Smith. „Das war eine österreichische Kultur, eine Unkultur.“Sie sei froh, dass Werdenigg den Mut aufgebracht habe, als Erste über ihr Leid zu berichten. „Ich weiß, dass es viele Frauen im Skisport gibt, die viel durchgemacht haben.“
Und: Im Zuge dieser Enthüllungen kommen noch andere Geschichten ans Tageslicht. Aus dem Skigymnasium in Stams in Tirol beispielsweise. Die Rede ist von abstoßenden Aufnahmeritualen wie dem „Pastern“; Vorwürfe, die sich im Übrigen nicht mehr nur auf Skisportler beschränken, sondern andernorts auch von Fußballern erhoben werden. Beim „Pastern“wird Neuankömmlingen das Gesäß oder/ und die Genitalien mit Schuhcreme oder Wachs eingerieben, zum Teil mit Drahtbürsten.
Das Gymnasium in Stams gilt eigentlich als Kaderschmiede im Skisport. In 50 Jahren hat es 300 WMTeilnehmer und Olympia-Medaillengewinner ausgebildet. Unter anderem Toni Innauer. Der 59-jährige frühere Weltklasse-Skispringer wurde später selbst ÖSV-Trainer und war auch Lehrer am Skigymnasium Stams. Er sagt, er wisse von einer „Paster“-Aktion im Vorarlberger-Skiverband, wo Mädchen „der Hintern und die Genitalien eingeschmiert“wurden. Der Verband sei dagegen eingeschritten und habe Sportler von Rennen und auch vom Training ausgeschlossen.
Innauer ist einer, der vergleichsweise Klartext redet. Auch, was den Umgang von ÖSV-Präsident Schröcksnadel mit Nicola Werdenigg betrifft. „Ich hätte nicht nur von Peter Schröcksnadel, sondern auch von einigen anderen einfach mehr Einfühlungsvermögen und Mitgefühl erwartet“, sagt er. Doch Organisationen wie der ÖSV „reagieren wie ein Panzer. Wenn es um sehr viel Geld und Macht geht, dann gibt es nur noch eine Kategorie: Dient es dem Gewinnen oder besteht dann eine Gefahr, dass ich mich schwäche?“Werdenigg sieht das ähnlich – und will sich gerade deshalb den Mund nicht verbieten lassen: „Ich habe im Leben viel erlebt, kürzlich meinen Mann verloren und viele Menschen beim Sterben begleitet. Ich habe keine Angst vor Menschen, die von Hass und Eitelkeit getrieben sind.“
Peter Schröcksnadel, der Langzeit-Präsident und Bergbahn-Unternehmer, ist bekannt dafür, dass er den ÖSV mit harter Hand regiert. Die bekannte Skirennläuferin Anna
Eine Ex Teamkollegin sagt: Ich hätte mich gewehrt
Der Verbandspräsident regiert mit harter Hand
Veith, ehemals Fenninger, hat 2015 diese Erfahrung gemacht, als sie einen deutschen Berater engagierte und für Mercedes werben wollte – während der ÖSV und auch Schröcksnadel selbst Verträge mit Audi abgeschlossen hatten. Veith sei von Schröcksnadel unter Druck gesetzt worden, bis sie nachgegeben hat, heißt es. Doch das Bild vom übermächtigen Ski-Boss hat Risse bekommen – auch wegen seiner Äußerungen im Fall Werdenigg. Verteidigt wird er noch von Ex-Skiläufer und ORF-Moderator Armin Assinger. Die Funktionäre „wollten sich natürlich den ÖSV nicht schlecht reden lassen“, entschuldigt er Schröcksnadels Reaktion. Und: „Die derzeitige Diskussion schadet natürlich dem Sport.“
Sie passt halt nicht in diese heile Ski-Welt.
Was in einer neuen Studie über Missbrauch im niederländischen Sport steht, lesen Sie im Sport.