Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (29)
INur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
ch sah, wie sie mit dem Bleistift wild hin und her fuhr, ähnlich wie wir es taten, wenn wir etwas schattierten, nur dass ihre Gesten unvergleichlich heftiger waren, als wäre es ihr egal, dass die Spitze das Papier aufschlitzte. Im selben Moment begriff ich, dass genau dies die Ursache des seltsamen Geräusches war und dass das, was ich für dunkles, glänzendes Papier gehalten hatte, kurz zuvor noch in säuberlichem Blau beschriebene Seiten gewesen waren.
Miss Lucy war so sehr in ihr Tun vertieft, dass sie eine ganze Weile brauchte, um meine Anwesenheit zu bemerken. Sie hob erschrocken den Kopf, und ihr Gesicht war rot, aber ich entdeckte keine Tränenspuren. Sie starrte mich an und legte den Bleistift aus der Hand.
„Hallo, junge Dame“, sagte sie und holte tief Luft. „Was kann ich für dich tun?“
Ich glaube, ich wandte mich ab, damit ich weder sie noch die Papiere auf dem Tisch betrachten musste. Soweit ich mich erinnere, sagte ich
kaum etwas – nur dass ich ein unerklärliches Geräusch gehört und mir Sorgen gemacht hätte, es könnte ausströmendes Gas sein. Ein richtiges Gespräch führten wir jedenfalls nicht: Sie wollte mich nicht hier haben, und ich wollte nicht hier sein. Ich stotterte wohl irgendeine Entschuldigung und entfernte mich, halb in der Erwartung, zurückgerufen zu werden. Aber das geschah nicht, und heute weiß ich nur, dass ich brennend vor Scham und Groll die Treppe hinunterging. In diesem Moment spürte ich nur den einen Wunsch: dass ich nichts gesehen und nichts gehört hätte, aber wenn Sie mich heute fragen, worüber ich mich so aufregte, könnte ich es nicht erklären. Ja, Scham hatte viel damit zu tun, auch Wut, aber nicht unbedingt auf Miss Lucy. Ich war äußerst verwirrt, und das war vermutlich der Grund, weshalb ich gegenüber meinen Freunden nichts von dem Vorfall erwähnte – erst sehr viel später.
Nach diesem Erlebnis war ich überzeugt, dass irgendwo in der Nähe, gleich hinter der nächsten Ecke, etwas lauerte, vielleicht etwas Schreckliches, das mit Miss Lucy zu tun hatte, und ich hielt Augen und Ohren offen. Aber die Tage vergingen, und ich erfuhr nichts. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte: Ein paar Tage nach dem Vorfall in Zimmer 22 geschah tatsächlich etwas ziemlich Bedeutungsvolles, nämlich zwischen Miss Lucy und Tommy, das Letzteren tief verstörte und verwirrte. Es hatte eine Zeit gegeben – sie lag noch nicht lang zurück –, in der Tommy und ich uns Neuigkeiten dieser Art sofort mitgeteilt hätten, aber gerade in jenem Sommer ging allerlei vor sich, das uns daran hinderte, so frei miteinander zu reden.
Deshalb erfuhr ich lange nichts davon. Später hätte ich mich ohrfeigen können, dass ich nichts gemerkt hatte, dass ich mir Tommy nicht vorgeknöpft und ihm alle Einzelheiten aus der Nase gezogen hatte. Aber wie ich schon sagte, damals passierte so einiges zwischen Tommy und Ruth, alles mögliche andere, und darauf schob ich alles, was mir an ihm komisch vorkam.
Zu behaupten, dass Tommys Haltung in jenem Sommer wieder in sich zusammenfiel, wäre wahrscheinlich übertrieben. Aber ich machte mir gelegentlich ernsthafte Sorgen, er könnte wieder zu dem linkischen, launischen Wesen werden, das er ein paar Jahre früher gewesen war. Einmal zum Beispiel waren wir zu mehreren auf dem Weg vom Pavillon zu den Schlafbungalows, und vor uns gingen zufällig Tommy und ein paar andere Jungen. Sie waren nur wenige Schritte entfernt, und alle, Tommy eingeschlossen, wirkten bestens gelaunt, lachten und rempelten sich gegenseitig. Ich glaube, es war sogar dieses Herumalbern, das Laura, die neben mir ging, das Stichwort gab. Anscheinend hatte Tommy kurz zuvor auf dem Boden gesessen, denn am unteren Rand seines RugbyHemds klebte ein ansehnlicher Lehmklumpen. Er wusste offensichtlich nichts davon, und seine Freunde hatten wohl auch nichts bemerkt, sonst hätten sie sich die Gelegenheit sicher nicht entgehen lassen. Laura jedenfalls – typisch Laura – rief etwas wie: „Tommy! Du hast Gaga am Hintern! Was hast du getan!“
Das war ein ganz harmloser Scherz, und wenn wir Übrigen noch etwas dazu sagten, so war es nichts anderes als das übliche Geplänkel von Schülern. Daher waren wir ziemlich schockiert, als Tommy jäh stehen blieb, herumfuhr und Laura wutschnaubend anstarrte. Wir anderen blieben ebenfalls stehen – die Jungen waren ebenso verblüfft und befremdet wie wir –, und ein paar Sekunden lang fürchtete ich, Tommy werde gleich explodieren, zum ersten Mal seit Jahren. Aber er wandte sich ebenso abrupt wieder ab und stapfte davon, während wir fragende Blicke wechselten und mit den Achseln zuckten.
Fast genauso schlimm war es, als ich ihm Patricia C.s Kalender zeigte. Patricia war zwei Klassen unter uns, aber jeder erstarrte in Ehrfurcht vor ihren Zeichenkünsten, und auf den Tauschmärkten waren ihre Arbeiten die begehrtesten. Ich hatte auf dem letzten Tauschmarkt einen von ihr gezeichneten Kalender ergattert, und darüber freute ich mich besonders, denn wir hatten schon Wochen vorher davon reden gehört. Er war etwas ganz anderes als etwa Miss Emilys bunte Fotokalender von den englischen Grafschaften. Patricias Kalender war klein und kompakt und hatte für jeden Monat eine phantastische Bleistiftzeichnung mit einer Szene aus dem Leben in Hailsham. Ich bedauere sehr, ihn nicht mehr zu haben, vor allem weil auf einigen Bildern – zum Beispiel dem Juni- und dem September-Bild – die Gesichter mancher Kollegiaten und Aufseher zu erkennen sind. Patricias Kalender ist eines der Dinge, die mir abhanden kamen, als ich die Cottages verließ; damals war ich in Gedanken anderswo und achtete kaum darauf, was ich mitnahm… Aber alles der Reihe nach. Was ich sagen will, ist, dass Patricias Kalender eine wunderbare Errungenschaft war, ich barst vor Stolz, und deshalb wollte ich ihn Tommy zeigen.
Ich sah Tommy von weitem neben der großen Platane nahe dem südlichen Sportplatz in der Spätnachmittagssonne stehen, und da ich meinen Kalender bei mir hatte – ich hatte während der Musikstunde damit geprahlt –, ging ich zu ihm hinüber.
Er verfolgte das Fußballspiel, das ein paar Jüngere auf dem Platz austrugen, und schien in ruhiger, ja heiterer Stimmung zu sein. Er lächelte mir zu, als er mich kommen sah, und wir plauderten eine Minute über nichts Besonderes. Dann sagte ich: „Tommy, schau, was ich da habe.“Ich bemühte mich gar nicht, den Triumph in meinem Tonfall zu unterdrücken, und vielleicht rief ich sogar „traraa!“, als ich ihn hervorholte und ihm reichte. Er nahm den Kalender und lächelte immer noch, aber sobald er darin zu blättern begann, sah ich, wie sich etwas in ihm verschloss.
„Diese Patricia“, fing ich an, aber ich hörte selbst, wie meine Stimme sich veränderte. „Sie ist so klasse…“