„Komm in mein Herz“
Gottesdienst in der JVA endet mit bewegendem Ereignis
Niederschönenfeld Was doch eine kleine Schachtel bewirkt, die sich unter dem Altar der Kapelle zum Wundertätigen Kreuz befindet. Dieser 24. Dezember ist so grau wie viele Tage zuvor. Kein Sonnenstrahl dringt durch die Fenster der Kirche, die sich in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Niederschönenfeld befindet. Es gebe noch ein Weihnachtsessen, „sonst ist es heute wie immer“, sagt ein Gefangener, der den Gottesdienst besucht. Aber dann geschieht etwas, was Hoffnung schenkt. Schon anfangs deutet sich an, dass diese Messe ungewöhnlich enden könnte.
Das Trio mit dem ungewöhnlichen Namen 2L84ME&U lässt die letzten Takte ihres ersten Liedes ausklingen, das aus dem Englischen übersetzt bedeutet: „Ich bin da, am Heiligabend.“Plötzlich klatscht jemand zaghaft, als habe er Angst, dass es in der Kirche nicht erlaubt ist, lauten Beifall zu bekunden. An diesem Nachmittag braucht es nur wenig, um den Sinn von Weihnachten zu erklären. Lediglich ein paar Figuren auf dem Altar und diese Schachtel, in der sich viele Strohhalme befinden, dienen als stimmungsvolle Symbole. Die Herzen der 60 Besucher öffnet dann der evangelische Pfarrer. Wolfgang Gronauer macht seine Predigt zu einer kleinen Show. Er verlässt den Altar, begibt sich mitten unter die Zuschauer und beginnt zu erzählen.
Es lebte einmal ein Großvater, der eine Krippe baute. Als er starb führte sein Sohn das Werk fort und schnitzte jedes Jahr eine Figur. Als Motive nahm er seine Familie, Nachbarn und Freunde. Als ihm niemand mehr einfiel, schlugen seine Kinder vor, er solle sich selber erschaffen. Die Idee setzte er in die Tat um und kreierte aus dem Stück Holz tatsächlich sein eigenes Antlitz. Doch wollte er sich selber nicht in die Krippe stellen. „Nein, da passe ich nicht rein“, behauptete er.
An dieser Textpassage hält Gronauer inne, schaut lächelnd in die Zuschauer, holt eine Figur vom Altar und fährt fort.
Beifall für den Chor
Schließlich stellte der Vater seine Skulptur abseits an den Rand. Doch als er an Weihnachten Besuch erhielt, geschah es. Jemand aus der Verwandtschaft platzierte ihn, ohne zu fragen, unter all die anderen Protagonisten, die die Krippe bevölkerten. Letztlich ließ er sich überzeu- gen und sein Ebenbild blieb, wo es hingestellt wurde. Er konnte es kaum glauben und sagte erstaunt: „Jetzt stehe ich auch neben Maria, Josef und Jesus.“
Zum Schluss seiner Geschichte verstummt Gronauer noch einmal, nimmt Blickkontakt zu den Häftlingen auf, lässt seine Worte wirken und bittet anschließend: „Kommen Sie vor, nehmen Sie einen Strohhalm und legen sie ihn an die Krippe, denn das bedeutet: Komm in mein Herz!“Tatsächlich folgen der Aufforderung fast alle und jeder klatscht dem Chor nach dem Schlusslied lautstark Beifall.
Und während sich die Männer von Gronauer und Pastoralreferent Michael Barnt per Handschlag verabschieden, steht die Schachtel immer noch unter dem Altar, aber – es befinden sich nur noch ein paar wenige Strohhalme darin.