Eine zweite Chance
Im Oktober bekommen Tanja Heel und ihr Mann Nachwuchs. Neun Tage danach die bittere Diagnose: Mattheo leidet an einem seltenen Gendefekt. Nur eine Stammzellenspende kann sein Leben retten. Die Familie weiß, was das heißt. Denn sie hat das schon einmal dur
Unterthingau Benjamin krabbelt unter den Esstisch, Patrizia stibitzt sich ein Stück Schokolade. Dann flitzt der Fünfjährige über die Couch, seine dreijährige Schwester hinterher, Verfolgungsjagd durchs Wohnzimmer, vorbei an Lea-Sophie, der Neunjährigen. „Nicht so laut“, mahnt Tanja Heel ihre Kinder, „das Baby!“Mattheo, knapp drei Monate, scheint sich nicht am Lärm seiner drei großen Geschwister zu stören. Er liegt in seinem Stubenwagen und schläft. Zufrieden sieht er aus, glücklich fast. Tanja Heel lächelt ihren Sohn einen Moment lang an, dann wird ihr Blick ernst. „Das ist es ja. Man sieht ihm seine Erkrankung nicht an. Man sieht nicht, dass sein Leben bedroht ist.“
Wer die Heels in Unterthingau im Ostallgäu besucht, muss sich erst einmal die Hände desinfizieren – und betritt dann ein Haus voller Kinderlachen, voller Bilder, die zeigen, wie aus einer kleinen Familie eine immer größere geworden ist. An den Wänden hängen Fotos von Tanja und Hubert Heel, mit Lea-Sophie auf dem Arm, mit Benjamin auf dem Schoß, mit Patrizia in der Mitte. An der Küchentür klebt eine Zeichnung für Mattheo. „Wir sind dank dir jetzt sechs, du großer Kerl“, steht da. Lea-Sophie, die Größte, hat es gemalt, neun Tage nach seiner Geburt. „Es war der Tag, an dem sie erfahren hat, dass ihr kleinster Bruder krank ist“, sagt die Mutter.
Der Säugling leidet an einem seltenen Gendefekt, der sein Immunsystem schwächt. Tanja Heel und ihr Mann Hubert haben keine Mühe, den Begriff „chronische Granulomatose“auszusprechen, zu erklären, dass die weißen Blutkörperchen in Mattheos Fall nicht richtig arbeiten und seine Immunabwehr deswegen nicht funktioniert, dass sich Bakterien und Pilze dadurch ungehindert in seinem Körper ausbreiten können, in Lymphknoten, Lunge, Leber und Haut. Die Eltern wissen, was das bedeutet. Denn sie haben das Ganze schon einmal durchgemacht.
Die 34-Jährige setzt sich an den Küchentisch, wiegt Mattheo, der gerade aufgewacht ist, im Arm und erzählt diese Geschichte, die im Februar 2012 ihren Anfang nahm. Wie Benjamin drei Wochen nach seiner Geburt eine schwere Erkältung bekam, ungewöhnlich früh für einen Säugling, noch dazu einen Abszess, der nicht heilen wollte, wie die Eltern einen Arzt nach dem anderen abklapperten, der Säugling mit fünf Wochen das erste Mal operiert werden musste, dann alle paar Wochen wieder, insgesamt sechs Mal. Mehrmals stand sein Leben auf der Kippe. Und die Mutter erinnert sich genau an jenen Tag im Haunerschen Kinderspital in München. Es war Freitag, der 13., als drei Ärzte auf einmal das Zimmer betraten. „Da wussten wir, jetzt sieht es schlecht aus.“Als plötzlich die Spezialisten der Immundefektambulanz, Gastroenterologie, Onkologie und Transplantationseinheit da waren, sagt sie, „da ist für mich eine Welt zusammengebrochen“. Benjamin war fünf Monate alt, als er die Diagnose bekam.
Eine Diagnose, die geschätzt eines von 200 000 Neugeborenen trifft, wie Professor Michael Albert vom Haunerschen Kinderspital sagt. Er und seine Kollegen behandeln etwa 40 Patienten, die an dem angeborenen Immundefekt leiden. „Nur eine Stammzellentransplantation kann die Krankheit wirklich heilen“, erklärt Albert. In diesem Fall liegen die Erfolgschancen bei 90 Prozent. Einen passenden Spender suchten in Deutschland zuletzt etwa 3000 Patienten, die meisten davon mit Leukämie. Umgekehrt konnten Stammzellenspender allein 2017 rund 5000 Patienten eine zweite Chance auf Leben schenken, heißt es bei der DKMS, die früher Deutsche Knochenmarkspenderdatei hieß.
So weit konnte Tanja Heel im Juli 2012 noch nicht denken. Sie musste erst den zweiten Schock verdauen. Die Ärzte erklärten ihr, dass sie Benjamin den seltenen Immundefekt vererbt hatte. Bei ihr wirkt sich der genetische Fehler nicht aus, von der Erkrankung sind nur Buben betroffen. Für die Mutter war diese Nach- richt eine „Watschn“. „Ich habe damals immer nur gedacht: Ich bin schuld! Da hat es mir den Boden unter den Füßen weggezogen.“Ihr Mann reagierte ganz anders, streichelte ihr immer wieder über den Rücken, beruhigte sie. Jetzt steht er in der Küche, füllt Joghurt für LeaSophie in eine Schale und sagt: „Das ist Genetik. Dafür kann keiner was. Erst recht nicht der Mensch.“
Die Heels haben gleich nach Mattheos Geburt testen lassen, ob auch er vom Gendefekt betroffen ist. „Wir haben zwei schmerzhafte Tage gebraucht, um uns zu fangen“, sagt die Mutter. Nun warten sie wieder auf einen Stammzellenspender, von den Familienmitgliedern kommt niemand infrage. Auf der Küchenarbeitsplatte stapelt sich das, was Mattheo bis dahin stabil halten soll: Antibiotika und Antimykotika, also Antipilzmittel, die der Säugling mehrmals am Tag bekommt, außerdem Spritzen und Handschuhe. „Das ist nicht schön“, sagt die 34-Jährige. „Aber wir haben das schon einmal durch.“Mattheo soll dank der Prophylaxe gar nicht so krank werden, wie es sein großer Bruder war. Einige Jahre kann er im besten Fall so überleben. Einen „Wissensvorsprung“nennt die Mutter das.
Und doch gibt es diese Momente, in denen alles nicht so einfach ist. In denen die Frage hochkommt, warum der Gendefekt auch Mattheo getroffen hat. Wo den Ärzten zufolge die Wahrscheinlichkeit deutlich höher war, dass er gesund zur Welt kommt. Tanja Heel sieht den Kleinen an und lächelt. „Jedes Kind ist ein Geschenk“, sagt sie. Und dass es Fragen im Leben gebe, auf die man keine Antwort findet. „Ich versuche, sie mir nicht jeden Tag zu stellen.“
Trotz allem bemühen sich die Heels, einen möglichst normalen Alltag zu führen – mit Kindergartenfesten, einem Wochenende bei der Oma, mit Weihnachtstagen, wie sie andere auch haben. „Normalität tanken“, nennt Tanja Heel das. „Unserer Familie gibt es Kraft, wenn alles so weiterläuft wie immer“, sagt sie. Und dass spätestens dann, wenn ein Spender für Mattheo gefunden ist, wieder „Ausnahmezustand“herrscht, wie damals bei Benjamin.
Ihr Mann holt ein Fotobuch aus dem Wohnzimmer, das Album, in dem Benjamins erste Lebensjahre mit allen Höhen und Tiefen dokumentiert sind. Da sind Bilder, die ein strahlendes Baby zeigen, „einen Sonnenschein“, wie die Mutter dazugeschrieben hat. Und solche, die wehtun: Benjamin im Krankenhaus, Benjamin mit Mundschutz und dem Katheter, der für die Chemotherapie gelegt werden musste, sein kleines, von Medikamenten aufgeschwemmtes Gesicht. Tanja Heel erinnert sich noch genau an diese Tage im Herbst 2012 – an die vielen Infusionen, die kritische Phase, in der sie keinen Körperkontakt zu ihrem Sohn haben durfte, wie der Bub seine Augen kaum öffnen konnte, weil sie so geschwollen waren. „Man würde dem Kind die Schmerzen so gern abnehmen. Aber wir können nur versuchen, ihm unsere Stärke zu geben.
Und dann sind da die Bilder in dem Album, die Mut machen. Benjamins erster Geburtstag in der Kinderklinik, der Sommer danach, sein zweiter erster Geburtstag, ein Jahr nach der geglückten Stammzellentransplantation. Die passende Spenderin für den Buben hatte sich schon zwei Monate nach der Diagnose gefunden – ein großes Glück, schon weil Benjamin sehr seltene Gewebemerkmale hat. Allein in Unterthingau haben sich damals 1500 Menschen typisieren lassen, um dem Buben zu helfen. Benjamins genetischer Zwilling war nicht dabei. Seine Spenderin war bereits bei der DKMS registriert. Das Album, erklärt Tanja Heel, ist ein kleines Dankeschön für die Lebensretterin. Zwei Jahre nach der Transplantation haben sie sich am Kemptener Weihnachtsmarkt getroffen, noch heute machen sie jedes Jahr einen Ausflug.
Benjamin kann sich nicht mehr an die Zeit erinnern, in der sein Leben auf der Kippe stand. Als die Heels ihre Geschichte vor kurzem in der
„Stern TV“erzählt haben, hat er die Bilder aus seiner Krankenhauszeit gesehen. „Mama, da schau ich ja ganz komisch aus“, hat er gesagt. Heute ist der Fünfjährige gesund. Er geht vormittags in den Kindergarten, tobt nachmittags durchs Haus oder spielt mit seiner kleinen Schwester.
Die Heels haben sich nach Benjamin bewusst dafür entschieden, noch einmal Nachwuchs zu bekommen. „Lea-Sophie war ein Schreikind, Benjamin sterbenskrank“, sagt die 34-Jährige. „Ich fand, wir hatten das verdient.“Es war eine entspannte Schwangerschaft. Ob es ein Bub oder ein Mädchen wird, haben sie
Es war Freitag, der 13. – und drei Ärzte kamen auf einmal
Sie war überzeugt, dass das vierte Kind gesund ist
sich nicht sagen lassen. „Wir waren felsenfest davon überzeugt, dass das Kind gesund ist.“Im April 2014 kam Patrizia zur Welt, ein fröhliches, unbeschwertes Mädchen, ganz ohne das Risiko, am Immundefekt zu erkranken. „Sie ist ein Wirbelwind und hat unserer Familie so gutgetan“, sagt die Mutter.
Tanja Heel hat danach eine Zusatzausbildung im Rettungsdienst gemacht. Sie wollte etwas zurückgeben. Die vierte Schwangerschaft war nicht geplant. „Aber für uns war es ein Geschenk.“Sie war auch dieses Mal überzeugt, dass das Kind gesund ist. „Ich wollte es einfach glauben“, sagt sie. Eine Pränataldiagnostik, mit der sich hätte feststellen lassen, ob es ein Junge wird und er auch an dem Gendefekt leidet, kam für beide nicht infrage, ebenso wenig eine Abtreibung. Nach der „Stern TV“-Sendung hat die Familie deswegen viele böse, auch beleidigende Kommentare bekommen. Die Heels waren darauf vorbereitet – und doch hat es sie getroffen. Sie verstehen, dass andere ihre Entscheidung nicht nachvollziehen können. Aber sie wollen sich nicht von fremden Leuten als verantwortungslos beschimpfen lassen. „Das kann sich keiner anmaßen“, sagt Hubert Heel.
Seine Frau gibt sich Mühe, das alles nicht an sich heranzulassen. „Ich bin überzeugt, dass sich Kinder ihre Eltern aussuchen. Und dann ist es eine Ehre, dass Mattheo sich uns ausgesucht hat.“Nichts im Leben, sagt sie, passiere ohne Grund. Die Heels werden warten, bis ein Spender gefunden ist. Und hoffen, dass ihr Jüngster gesund wird. „Und ich werde alles tun, um ihm ein glückliches Leben zu ermöglichen“, sagt die Mutter. Mattheo, hat sie erklärt, bedeutet „Geschenk Gottes“.