Mosaikstein für Mosaikstein
Die digitale Technik macht das Leben einfacher. Das gilt allerdings auch für das Horten von Daten. Unsere Gewohnheiten, unsere Bedürfnisse – mit jedem Klick verraten wir mehr. Ein Alltags-Protokoll
Irgendjemand ist mir dicht auf den Fersen. Im finsteren Dunkel kann ich meinen Verfolger nicht erkennen, nicht einmal grobe Umrisse. Völlig erschöpft renne ich weiter, auch wenn meine Schritte schwerer und schwerer werden – fast so, als würde der Boden nach meinen Füßen greifen. Wie aus dem Nichts wird die Stille plötzlich von einem schrillen Pfeifen aus der Ferne durchdrungen, das zunehmend lauter wird. Ein kurzes Zucken – ich öffne die Augen. „6.30 Uhr, guten Morgen“zeigt das Display meines Handys an.
Über meine nächtliche Fluchtszene weiß mein Telefon, das die Nacht über hinter dem Kopfkissen auf der Matratze gelegen hat, längst Bescheid. Sie schlägt sich deutlich in der Schlafanalyse nieder, die mir während des Frühstücks vorgelegt wird: Dem Kurvenverlauf nach begann die wilde Verfolgungsjagd gegen 4.30 Uhr. Diesen Einblick macht eine GesundheitsApp möglich, die meine Nachtruhe treffend als „mittelmäßig erholsam“einstuft. Dafür musste ich der kostenlosen Anwendung den Zugriff auf den im Handy eingebauten Lagesensor gestatten, dem mein zunehmendes Herumwälzen im Bett nicht entgangen ist. Für eine vollumfängliche Diagnostik müsste ich laut App jedoch auf die kostenpflichtige PremiumVersion wechseln und das Gerät mit einem Fitnessarmband koppeln, das meine Herzfrequenz und den Blutdruck registriert. Auch den Zugriff auf meine Standortdaten verlangt die App. Im Gegenzug bietet sie an, mich bei einer gesunden Lebensführung zu unterstützen, meine Schritte zu zählen und mich im Alltag an ausreichende Bewegung und ausgewogene Ernährung zu erinnern. Weil ich der
App die Synchronisation mit meinen Kontakten erlaubt habe, kann ich sehen, wann meine Freunde sich zum Sport aufgerafft haben, wie weit sie gelaufen sind und wie lange sie dafür gebraucht haben. Außerdem bestehen die Zusatzoptionen, eine internetfähige Badezimmerwaage hinzuzufügen
und ein Essenstagebuch zu führen. „Informationen wie diese, die wir über uns preisgeben, werden in riesigen Serverzentren gehortet“, sagt Christian Bennefeld, der als Gründer und Geschäftsführer der Hamburger Firma E-Blocker am Schutz personenbezogener Daten im Internet arbeitet. Das Geschäftsmodell der Datensammler, allen voran Google und Facebook, sind Profite durch „Target Advertising“, also zielgerichtete Werbung. „Die Idee ist es, sämtliche digitalen Informationsfetzen über uns Konsumenten zu einem immer detaillierter werdenden Mosaik zusammenzufügen“, erklärt Bennefeld. So sind Nutzer einer App, die das Lauftraining aufzeichnet, ideale Werbeziele für Sportartikelhersteller. Wer sich darüber hinaus gesund ernährt und das online mitteilt, lässt sich generell als gesundheitsbewusster Mensch kategorisieren und könnte sich dementsprechend auch für Fitness-Kochbücher, Sportgeräte oder zuckerfreie Powerriegel interessieren. Da sich hinter diesem Wissen ein erhebliches Handelskapital befindet, warnen Verbraucherschützer regelmäßig vor unseriösen Anbietern. Erst im Juni vergangenen Jahres standen diverse Fitness-Apps,
smarte Uhren und Armbänder im Verdacht, im großen Stil Daten abzuführen. „In diesem Zusammenhang kommt es regelmäßig zu Abmahnungen“, erklärt die Juristin Katharina Grasel von der Verbraucherzentrale Bayern. Mein Schoko-
Müsli enthalte ich meiner Gesundheits-App heute vor. Denn ich bin wie jeden Morgen längst damit beschäftigt, durch verschiedene Nachrichtenseiten, soziale Medien und Messenger-Dienste zu scrollen. Meine Cousine hat über Nacht ihre Urlaubsfotos per Facebook mit ihren Freunden und Bekannten geteilt. „Schöne Zeit noch“, kommentiere ich dazu. Von ihrem Urlaub habe ich vor einer Woche erfahren – per Facebook.
Mit vollem Mund google ich mithilfe der Spracherkennung
nach guten Angeboten für Scheibenwischerblätter und bin überrascht, dass mein Handy meine undeutliche Aussprache richtig erkennt. Gleichzeitig erhalte ich nacheinander eine Übersicht über meine
Termine, die Wetterprognose, die aktuelle Verkehrslage auf den für mich relevanten Straßen und aktuelle Sonderangebote für andere Artikel, nach denen ich irgendwann einmal gesucht habe. Dass ich dabei nicht alleine bin, zeigt mir das Handy ebenfalls an: 22 meiner Freunde und Bekannten verbringen ihren Morgen auf die gleiche Weise, tauschen sich online über das Zeitgeschehen aus, teilen Musik und kündigen ihre Teilnahme
an Veranstaltungen in den nächsten Tagen an. Durchschnittliche Nutzer produzieren auf diese Weise täglich eine Datenmenge von etwa 700 Megabyte, wie Analysten des Gartner-Instituts errechnet haben – falls man noch in den Dimensionen altmodischer Medien denken will, entspräche das dem Fassungsvermögen einer herkömmlichen CDROM oder mehreren hundert Aktenordnern an ausgedruckten Textseiten. Allein der Datenpool von Google wächst täglich um ein Petabyte, also über eine Million Gigabyte.
Der Rechnung folgend entspräche das rund 8,4 Millionen Aktenschränken mit je 60 Ordnern voller Textseiten. Microsoft hat 2016 ein riesiges Rechenzentrum auf dem Meeresgrund angelegt. Und Facebook wickelt täglich rund vier Petabyte an neuen Daten ab, in denen die Zeitpunkte unserer Logins, unsere Likes, Kommentare und die Urlaubsfotos meiner Cousine festgehalten werden. Im Aktivitätenprotokoll, das man über die Kontoeinstellungen Facebooks herunterladen kann, lässt sich die penible Akribie einsehen, mit der jeder Klick aufgezeichnet wird. Und auch was wir außerhalb von Google und Facebook im Netz machen, erreicht die Datenriesen. „Auf den meisten Internetseiten, in den Apps und auf vernetzten Geräten sind sogenannte Tracker installiert, die im Hintergrund mitlaufen“, erklärt Bennefeld. Auf vielen Websites verfolgen seiner Aussage nach oft mehrere Dutzend Tracker unsere digitalen Schritte. Sie registrieren nicht nur unseren Besuch, sondern auch von welchem Gerät aus wir zugreifen und leiten daraus weitere Informationen ab: „Wenn Sie ein teures Iphone nutzen, dann haben Sie möglicherweise mehr Geld als jemand, der ein günstigeres Telefon besitzt“, sagt der 50-jährige Experte. So sei zum Beispiel nachweisbar, dass einige Onlineshops den Produktpreis je nach mutmaßlicher Kaufkraft und Zugriffsort des jeweiligen Interessenten ändern. „Dynamische Preisanpassung“wird das branchenintern genannt. Im Laufe des Tages nehme ich etwa einmal pro Stunde mein Handy in die Hand. Während der Mittagspause beantworte ich Kurznachrichten, werfe einen Blick auf meinen Kontostand, meine digitale Einkaufsliste und lese einen Artikel, den mir ein Kollege weitergeleitet hat. Einen erheblichen Teil der personenbezogenen Informationen häufen wir jedoch nicht mit Klicks an, sondern durch unsere Gewohnheiten: Wo und wie wir unsere Zeit verbringen, welche Verkehrsmittel und Wege wir nutzen oder in welchen Läden wir einkaufen. Je stärker wir uns darüber hinaus auf Apps verlassen, die uns das Navigieren, Bezahlen und die Parkplatzsuche erleichtern, uns Gutscheine für unsere Ausgaben und Preisvergleiche anbieten oder uns durch das Binden eines Krawattenknotens leiten, desto exakter wird unser digitales Phantombild. „Für die kostenfreie Verwendung aller möglichen Apps bezahlen wir indirekt, in Form unserer persönlichen Daten“, sagt Bennefeld, der vor einigen Jahren in Hamburg ein Tracking-Unternehmen aufgebaut hat. Mittlerweile ist er Geschäftsführer einer anderen selbstgegründeten
Firma, die Methoden gegen das unkontrollierte Abschöpfen von Nutzerdaten erarbeitet.
Im Supermarkt um die Ecke verbringen die Kunden im Schnitt 28 Minuten. Das blendet mir mein Handy ein, als ich in der Mittagspause an der Kasse warte. In einer Google-Statistik lassen sich die üblichen Stoßzeiten ablesen, auch Kommentare zu ihren Einkaufserlebnissen haben andere Leute dort hinterlassen. „Freundliches, motiviertes Personal“schreibt ein junger Mann, der den Discounter mit vier von fünf Sternen bewertet hat. Auch ich könnte mich in die Unterhaltung einbringen und beispielsweise einen Schnappschuss oder ein Video meines Toastbrots teilen, wie es der motivierten Kassiererin entgegenfährt.
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