Wo der Islamische Staat zu Hause war
Krieg Rakka galt als „Hauptstadt“des IS in Syrien. Im Oktober eroberten Rebellen die Terroristen-Hochburg. Die Häuser liegen noch immer in Trümmern, internationale Hilfe gibt es kaum. Wie die Menschen versuchen zu überleben und wovor sie besonders Angst h
Mohammed al Fahad blickt auf den Kreisverkehr der Hölle, während er seine Mixer reinigt. Er verkauft Fruchtsäfte an dem Platz im Zentrum von Rakka, wo der IS noch bis vergangenen Oktober die Köpfe seiner Opfer auf Zaunlatten aufgespießt hat. „Sie haben uns gezwungen, alles mit anzusehen, die Folter, die Hinrichtungen“, sagt der Mann aus der ehemaligen „Hauptstadt“des Islamischen Staates in Syrien. Eine Bananenstaude baumelt einsam von der Decke seines Geschäfts. Al Fahad hat wieder mal nichts zu tun. Abends wird er die ziemlich leere Kasse einpacken und mit einem Motorroller über die schuttbedeckten Straßen zu seinem Haus in einem Vorort von Rakka fahren. Zwei Kinder und seine Frau warten dort. Aber der Vater bringt kaum Geld mit heim.
Kaum jemand macht Geschäft in der Trümmerstadt. „Vor dem Krieg war ich Ingenieur“, sagt al Fahad. Er trägt eine lederne Armbanduhr und ein cremefarbenes Leinenhemd. Er wirkt wie ein Geist, der sich aus einer besseren Vergangenheit in den Schmutz und die Düsternis der Gegenwart verirrt hat. Al Fahad erscheint abwesend, als er erzählt, wie es war in seiner Stadt, die, so sagt er, der Teufel in Besitz genommen hatte. Als hätte sich ein Teil von ihm während all der Gräuel auf und davon gemacht in jene Zeiten, die aus und vorbei sind.
„Wissen Sie, wir waren mal gebildete Leute, wir hatten eine Universität, ein Archäologiemuseum, kulturelles Leben“, sagt er. Dann spricht er kein Wort mehr. Der Augenschein reicht aus, um zu wissen, was nun ist: Alles ringsherum ist zu Staub zerfallen. Was die Zukunft bringt? Über die Verwaltung der Trümmer Rakkas unter der Ägide der kurdisch-arabischen „Syrisch Demokratischen Front“(SDF) könne er nicht klagen, meint al Fahad. Was soll sie angesichts der Verwüstung auch mehr ausrichten, als das nackte Überleben zu sichern? Vielleicht übernehme auch das AssadRegime die Stadt wieder, wer wisse das schon im Moment. Es ist ihm ohnehin eins. Solange er niemals wieder mit ansehen muss, wie Schwerter Hälse spalten, danke er Gott. „Mein Kopf war immer auf Reisen, als das alles passiert ist. Ich war ganz woanders“, sagt er. Auch jetzt, so scheint es, ist er noch nicht wirklich anwesend in seiner zerstörten Welt.
Es gibt die unterschiedlichsten Arten, wie Betonmauern und Stahlträger brechen, verbiegen oder in Stücke reißen können. Eine Stadt, die vor dem Krieg etwa 200 000 Einwohner hatte, wirkt nun in Teilen wie planiert. 70 Prozent der Häuser, schätzen die Vereinten Nationen, sind zerstört oder beschädigt. Ebenen aus Staub und Betonkrümeln erstrecken sich über weite Flächen. Gewaltige Krater klaffen in ihnen, die von noch mächtigeren Detonationen zeugen. Anderswo türmen sich Schutt und Metallteile zu Bergen in Haushöhe auf. Dazwischen gibt es Zonen mit halb eingestürzten Bauten. Stockwerke liegen bisweilen aufeinandergeschichtet wie welke Salatblätter in einem Sandwich. Immerhin, wo die Ruinen stehen, lässt sich noch erkennen, dass es eine Stadt gab und nicht Wüste seit Urzeiten. Einwohner tragen in den halb oder ganz eingestürzten Gebäuden Trümmer mit Schaufeln ab. Sie hämmern und sägen, andere steuern Bulldozer, um Schutt von den Straßen in die Bombenkrater zu schieben. Die Männer müssen Minen oder Sprengfallen aus dem Weg gehen. Sie finden nach Monaten im- mer noch Leichen. Es sind die namenlosen Toten der alliierten Luftangriffe. Sie enden wie der Schutt in Gruben. Der Verwesungsprozess verzögere sich, wenn Tote fast ohne Luftzufuhr begraben sind, erklärt ein Helfer der „Emergency Units“, der Noteinsatzteams der neuen Zivilverwaltung, am Straßenrand.
Der Mann wischt sich den Schweiß von der Stirn und zündet sich eine Zigarette an. „Jeden Tag, wenn wir graben, fängt es irgendwo fürchterlich zu stinken an“, sagt er. „Das ist, wie wenn ein Sack fauler Melonen angestochen wird.“
150 000 Menschen sollen sich nach Angaben der neuen Stadtverwaltung von Rakka zumindest tagsüber in den Ruinen aufhalten, um ihre Geschäfte wiederzueröffnen. Die meisten kehren nachts in die Vororte oder Dörfer in der Umgebung zurück. Rakka war vor dem Krieg keine arme Stadt. Viele Bewohner haben ein Landhaus, das die Kämpfe und Bombardements der Anti-IS-Koalition überlebt hat.
Wer weniger Glück hatte, muss unter Zeltplanen leben in Camps. Die Einwohner kommen auf Eselrücken in ihre zerstörte Stadt, um etwas zu verdienen. Viele eröffnen in den Ruinen Läden – in der Hoffnung, dass andere, die genauso we- nig haben wie sie, etwas kaufen. Andere bauen als Angestellte der neuen Zivilverwaltung die Stadt wieder auf. Doch es fehlt an allem: Werkzeug, Maschinen und Lohn für die harte und lebensgefährliche Arbeit. Nirgends sind die Jeeps mit den Logos der internationalen Hilfsorganisationen zu sehen, nirgends schweres Gerät, das Trümmer beseitigt. Eine internationale Koalition hat diese Stadt in Trümmer gebombt. Doch jetzt scheint sie sich selbst überlassen.
Die neue Bürgermeisterin von Rakka will nicht an ihrem Schreibtisch fotografiert werden. Leila Mustafa bleibt lieber auf dem Sessel in ihrem provisorischen Büro sitzen. Dort, wo auch die Bürger Platz nehmen und ihre Klagen darüber vortragen, dass es kein fließend Wasser und keinen Strom gibt. Einer nach dem anderen wird empfangen, so geht es Stunde um Stunde. Besser also, Mustafa bleibt, wo sie ist. Im Oktober 2017 kehrte die in Rakka geborene Kurdin mit der SDF in ihre Heimatstadt zurück. Gemeinsam mit einem Araber leitet sie nun die provisorische Verwaltung. Wenn die Stadt wieder aufgebaut ist, soll die Bürgermeisterin durch ein gewähltes Gremium ersetzt werden, erklärt Leila Mustafa.
Eine Frau im Rathaus, noch dazu Kurdin und ohne Kopftuch. Und das in einer Stadt, in der Dschihadisten Peitschenhiebe versetzten, wenn Frauen Knöchel entblößten. Es klingt nach einem gewagten Experiment. Doch Mustafa sieht es anders. „Die Menschen haben es so satt“, sagt sie und meint den religiösen Fanatismus, das Sektierertum, die Heuchelei. Ihre Stadtverwaltung will blind sein für Religions- oder Volkszugehörigkeit, für das Geschlecht. Wie das funktioniert, zeigt sich im Vorzimmer der Bürgermeisterin. Drei Mitarbeiterinnen erklären in der traditionellen Dschellaba gekleideten Stammesvertretern, sie können sich jetzt ruhig auch mal gedulden, bis die Frau Bürgermeister Zeit für sie hat. Die Herren nehmen widerstandslos Platz und schauen würdevoll drein.
Leila Mustafa kann sich auch nicht so recht erklären, wo die internationale Hilfe bleibt. Die Amerikaner, die in der Stadt Patrouille fahren, liefern manchmal schweres Gerät. Das war es auch schon, was von außen komme, sagt sie. Rakka und andere arabisch-sunnitische, vom IS befreite Städte und Dörfer hängen am Tropf der autonomen Kurdenregion Rojava in Nordostsyrien. Dort hat die PYD-Partei das Sagen. Sie ist der Ideologie des PKK-Chefs Abdullah Öcalan verbunden. Die Türkei hat ihre Grenze zu Rojava geschlossen. Der Region geht es wirtschaftlich schlecht. Sie muss nun die dem IS entrissenen Gebiete vor einem humanitären Desaster bewahren. Bürgermeisterin Mustafa gibt zu, dass sie dabei ist, den Wettlauf mit der Zeit zu verlieren. Angesichts all der Leichen in der Stadt drohen Epidemien. „Im Sommer wird es Seuchen geben“, sagt sie.
Eine weitere Plage drohe durch die schwierige militärische Lage der „Syrisch Demokratischen Front“. Die kurdischen Verbände zogen sich aus dem Osten Syriens zurück, als die Türkei im Januar den bis dahin zu Rojava gehörenden Kanton Afrin angriff. Viele Kämpfer blieben seitdem entlang der Grenze zur Türkei. Südlich und östlich von Rakka steht die SDF zwei Gegnern gegenüber: die verbleibenden Zellen des IS und schiitische Milizen, die dem AssadRegime loyal sind und von Russland unterstützt werden. Der IS wie auch das Assad-Regime wollen Rakka unter ihre Kontrolle bringen. Im Sommer werde auch der alte Feind zurückkehren, glaubt die Bürgermeisterin. „Wir erwarten, dass sie in den kommenden Monaten wieder hier aktiv werden.“
Einige Kilometer vom provisorischen Rathaus entfernt hat ein weiteres Gebäude den Bomben getrotzt. Schuldirektor Mohamed al Ali al Ahmed empfängt mit Stolz in der einzigen Schule Rakkas, die fast noch alle Fenster hat. Auf dem Schulhof präsentiert er ein kleines Wunder: Rund 800 Jungen und Mädchen im Grundschulalter toben in der Pause, wie sie es überall in der Welt tun. Doch bis vor wenigen Monaten war Rakka nicht von dieser Welt. Seit 2013 gab es keinen Unterricht in der Stadt. Viele Eltern hielten ihren Nachwuchs von den IS-Schulen fern. Doch Kinder lassen sich nicht drei Jahre lang im Haus verstecken. Der IS schnappte sie dann doch. Oder sie sahen in der Stadt die Videoübertragungen von Folter, Hinrichtungen und dem Märtyrertod.
Als sie dann vor einigen Monaten zum ersten Mal eine Schule betraten, fehlte den Kindern mehr als das Alphabet. „Einige gingen auf uns los“, sagt der Rektor. Und die Schüler zeigten ein erstaunliches Detailwissen. „Sie wissen alles über Sprengstoff, über den roten Draht bei einer Bombe oder den blauen.“Sind derart verrohte Kinderseelen nicht ein Fressen für eine kommende IS-Generation? Der Pädagoge schüttelt den Kopf. „Wir Erwachsenen sind genauso kaputt. Ich hatte Angst vor einem falschen Gedanken, weil ich sicher war, dass sie das bemerken können“, sagt er.
Nach einem halben Jahr können viele seiner Schüler mehr als nur lesen und schreiben. „Sie fangen an, miteinander zu spielen“, erzählt al Ahmed. Die Kinder Rakkas bräuchten nun viel von dem, was fehlt: Hefte, Stifte, Schulen ohne Löcher in den Wänden, Lehrer, die ein Gehalt erhalten, und Traumatherapeuten. Der Schulleiter hofft, dass die Welt, die Rakka zerstört hat, um es vom IS zu befreien, die Kinder der Stadt nicht ihrem Schicksal überlässt.