Nord, Ost, Süd, West – To Hus best
Das Haus lag am obersten Punkt einer Berggasse, gleich unterhalb des Burgberges. Die Stube des Schülers lag vier immer enger und steiler werdende Treppen hoch, in der obersten Spitze des Hausgiebels.
Trat der Schüler an sein Fenster und der Tag war klar, so sah er über die Dächer der kleinen Stadt fort, über das mäßig weite Flußtal fort, über die sanften Laubhügel, die die andere Seite des Tals begrenzten, fort bis zu jenen schroffen Basaltfelsen mit ihren dunklen Tannen und Fichten, die ,der Uhu‘ hießen.
Er sah oft dahin, denn unterhalb des Uhus, eine schwache Stunde nur zu gehen, lag seine Heimat, Rittergut Triebkendorf.
Der Schüler steht am Fenster, er geht in Gedanken den steilen Fußpfad den Uhu abwärts. Abfließender Regen hat den Lehm vom Wege gewaschen, er klettert vorsichtig über Felsblock auf Felsblock.
Manche Steine sind fest eingesponnen von den zähen Stricken losgespülter Wurzeln, andere schwanken leise, als wollten sie unter seinem Fuß abstürzen.
Allmählich wird der Pfad weniger steil, die Bäume treten dichter an ihn heran, er geht nun wie in einer kühlen, grünen Halle. Dann wird es heller vor ihm, er tritt hinaus aus dem Wald, der Bergzug ist über Hügel in eine fruchtbare Ebene ausgelaufen. Noch ein paar Schritte, der Fahrweg geht um eine Heckenecke, und vor dem Jungen liegt das Dorf. Kaum Dorf, mehr Gut, mit den langen, öden Leutehäusern der Deputanten, um die es immer feucht nach faulen Kartoffeln riecht.
Nun taucht am Ende des Weges die große Torfahrt zum Rittergutshof in der schwarzgrauen Feldsteinmauer auf. Geradezu, am andern Ende des Hofes, der von Scheunen, Stallungen und Schuppen begrenzt ist, liegt das Herrenhaus. Aber nicht das ist wichtig. Wichtiger ist gleich rechts vorn das kleine, rote Backsteinhaus, mit den sechs Fenstern unter dem tiefen Dach, das die Heimat des Jungen ist.
Es ist nichts, gar nichts. Ein roter Kasten, ein Inspektorenhaus, wie es auf tausend Rittergütern steht, innen mit getünchten Wänden, abgetretenen Dielen, verräucherter Küche – aber hier ist er zu Haus.
Zwei Linden stehen vor der Tür, sie sind hoch und stark, weit reichen sie über Dachfirst und Schornstein hinaus. Sie sind immer dagewesen, seit er ganz klein war, er kann sich nicht erinnern, daß sie je weniger stolz und schirmend waren.
Wenn das Wetter nur einigermaßen war, so hatte die Mutter den Wagen mit dem Kind hinausgeschoben. Es hatte hinaufgesehen in die grün verwunschene, durchgoldete Blätterwildnis, die sich sachte verschob, wenn der Wind ging, es hatte auch danach gegriffen.
Es lernte die Bäume kennen, wenn sie noch hell und schütter waren, und überall der Himmel durch die knorrigen, schwarzen Schlangen der Äste hindurchschaute. Später dann, wenn sie voller wurden, und man sah nichts mehr als Grün, Grün, Grün. Bald blühten sie, und die Bäume erklangen wie große Glocken von dem unablässigen Gesumm der Bienen. Am Ende wurden die Blätter schlaff und gelblich, sie lösten sich erst einzeln, dann wurden es ihrer mehr und mehr. Jeder Windstoß trieb sie über den Hof, sie häuften sich in den Tränksteinen der Pferde, an den Feldsteinmauern der Stallungen und erfüllten alles mit ihrem scharfen und trüben Geruch.
Als der Schüler, größer geworden, aus dem Schlafzimmer der Eltern in die Giebelstube umzog, allein schlafen lernte, da waren es die Linden, die ihn trösteten, wenn er sich in der einsamen Leere der Nacht ängstigen wollte – er kannte jeden Laut von ihnen, er war ja an ihnen groß geworden.
Der Schüler steht am Fenster des Pastorenhauses in der Berggasse und starrt auf den Uhu. Er meint, den glatten, über eine Näharbeit gesenkten Scheitel der Mutter am Fenster zu sehen. Aus dem Pferdestall kommt der Vater, die Reitpeitsche in der Hand. Er bleibt stehen unter dem Holzgestell in der Hofmitte, an dem eine ausgediente Pflugschar hängt. Der Vater zieht die Uhr, er wartet noch einen Augenblick, dann sagt er zum Leutevogt: „Eins!“und der Leutevogt schlägt mit dem Hammer gegen die Pflugschar, daß es hell und stählern über den Hof erklingt.
Aus der Stalltür taucht das erste Gespann Pferde auf. Gegenüber dem Inspektorenhaus stellen sich die Leute in Reihen an. Vorne die Hofgänger, erst die Jungen, dann die Mädels. Dahinter die Deputanten, erst die Frauen, dann die Männer …
Er sieht es, er hat es hundertmal gesehen, tausendmal! Darum kann er es auch jetzt sehen, vom Fenster im Pastorenhaus über sieben Bergrücken, sieben Täler hin.
Nun beginnen die Glocken im Tal eilfertig zu klingeln, es ist Sonnabendnachmittag, Feierabend. Der Schüler seufzt. Er sieht nicht mehr den Uhu, er sieht über das Städtchen hin, drüben am Fluß liegt das Gymnasium, um dessentwillen er hier sein muß. Dann sieht er näher, in die Berggasse, in das Haus schräg gegenüber, in dem eine Schneiderstube ist.
Dort packen sie auch zusammen, es ist ja Feierabend. Ein Geschwirr von jungen Mädchen ist beim Aufräumen. Es sind die höheren Bürgertöchter, die Nähstunde gehabt haben.
Wie schon oft, fällt ihm wieder eine lustige, schlanke Blonde auf, und als sie hersieht, nickt er hin.
Sie nickt wieder. So stehen sie eine Weile sich gegenüber an den Fenstern. Der Fünfzehnjährige und die kleine Blondine. Sie nicken einander zu und lachen.
Plötzlich hat er einen Gedanken. Er macht ihr ein Zeichen, läuft ins Zimmer, sieht sich auf seinem Tisch um, ergreift den leeren Briefumschlag, der vom heutigen Brief der Mutter noch dort liegt, und stürzt wieder ans Fenster.
Sie sieht ihm entgegen, er hebt den Briefumschlag hoch und nickt voller Bedeutung. Sie sieht zögernd zurück, nickt dann aber auch langsam …
Er stürzt fort vom Fenster, die Treppe hinunter.
Auf dem ersten Absatz bleibt er stehen, sie ist auch eine Treppe hinuntergelaufen, sie ist auch stehengeblieben. Er hebt den Brief wieder, und sie nicken beide.
Nächste Treppe, nächstes Nicken.
Letzte Treppe, letztes Nicken. Auf mit der schweren, ächzenden, eichenen Haustür!
Hinaus auf die holprige Kopfsteingasse.
In der Mitte, zwischen den beiden Häusern, auf der Gasse treffen sie sich.