Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus (16)
Frankenstein ist jung, Frankenstein ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffung einer künstlichen Kreatur, zusammengesetzt aus Leichenteilen, animiert durch Elektrizität. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen …
Du erinnerst Dich sicher, daß Du Justine sehr gern hattest, und ich weiß, daß Du eines Tages sagtest, daß ein Blick aus Justines Augen imstande sei, jede üble Laune von Dir zu vertreiben. Auch Deine Mutter war ihr sehr zugetan und beschloß, ihr eine bessere Erziehung zu geben, als sie ursprünglich beabsichtigt hatte. Diese Wohltat ward ihr reichlich vergolten, denn Justine war das dankbarste Geschöpf, das man sich denken kann. Nicht, daß sie schmeichelte; aber ihre Augen verrieten, wie sehr sie ihre Herrin vergötterte. Wenngleich sie sehr lebhaft, in mancher Hinsicht sogar unachtsam war, beobachtete sie doch mit der größten Aufmerksamkeit jede Bewegung, jede Miene Deiner Mutter. Diese galt ihr als Muster aller Vollkommenheit und sie bemühte sich, ihr in Rede und Haltung zu gleichen, so daß sie mich heute noch immer an die Entschlafene erinnert.
Als dann Deine geliebte Mutter starb, waren wir alle zu sehr in unseren
Gram vertieft, um von der armen Justine Notiz zu nehmen, die die Kranke mit der hingebendsten Liebe gepflegt hatte. Das Mädchen wurde sehr krank, aber andere Prüfungen waren ihr noch vorbehalten.
Nach und nach starben alle ihre Brüder und Schwestern dahin und ihre Mutter hatte niemand mehr als sie, die vernachlässigte Tochter. Und da begann sich das Gewissen der alten Frau zu rühren: sie glaubte in dem Tode ihrer Lieblinge ein Strafgericht für ihre Ungerechtigkeit zu erkennen. Sie war katholisch und ich glaube, daß ihr Beichtvater sie in dieser Ansicht nur noch bestärkt hat. Kurz, einige Monate nach Deiner Abfahrt nach Ingolstadt wurde Justine zu ihrer Mutter zurückberufen. Armes Ding! Sie weinte bitterlich, als sie uns verließ; seit dem Tode Deiner Mutter war sie ganz verändert und ihre frühere Lebhaftigkeit war einer herzgewinnenden Weichheit und Milde gewichen. Aber der Aufenthalt bei ihrer Mutter war gar nicht geeignet, sie wieder fröhlich zu machen. Die arme Frau war nicht sehr beständig in ihrer Reue. Oftmals bat sie Justine, ihr doch ihre Unfreundlichkeiten zu verzeihen, aber dann wieder klagte sie sie an, daß sie am Tode ihrer Brüder und Schwestern schuld sei. Dieser immerwählende Gram nagte an Frau Moritz, die immer verdrießlicher und reizbarer wurde, bis sie endlich auf ewig Ruhe fand. Sie starb bei dem Herannahen des kalten Wetters zu Beginn des letzten Winters. Justine ist wieder bei uns und ich kann Dir nur versichern, daß ich sie herzlich lieb habe. Sie ist sehr klug und nett und außergewöhnlich hübsch. Wie ich Dir schon sagte, erinnert sie mich in Miene und Haltung immerwährend an Deine Mutter.
Noch muß ich Dir mit ein paar Worten über unseren lieben, kleinen Wilhelm berichten. Ich wollte, Du könntest ihn sehen. Er ist sehr groß für sein Alter, hat lachende, blaue Augen, dunkle Augenbrauen und gelocktes Haar. Wenn er lacht, erscheinen auf seinen Wangen zwei rosige Grübchen. Er hat bereits einige kleine Bräute; die liebste von allen ist ihm aber Luise Biron, ein reizendes Kind von fünf Jahren.
Ich nehme an, daß Dir auch ein kleiner Klatsch über unsere Genfer Bekannten erwünscht ist. Fräulein Mansfeld hat sich mit einem jungen Engländer, Herrn John Melbourne, verlobt, während ihre häßliche Schwester Manon letzten Herbst einen reichen Bankier, Herrn Duvillard, geheiratet hat. Dein Schulfreund Ludwig Manoir hat mit viel Mißgeschick zu kämpfen gehabt. Es geht ihm aber jetzt wieder gut und man erzählt sich, daß er im Begriffe sei, eine liebenswürdige Französin, Frau Tavernier, zu heiraten. Sie ist Witwe und viel älter als er; aber sie wird von allen Seiten verehrt und angebetet.
Während des Schreibens merke ich, daß ich mich selbst damit in bessere Laune versetzt habe; aber nun, wo ich schließen möchte, kehrt meine Angst wieder. Schreibe, lieber, guter Viktor, eine Zeile, ein Wort wird uns reich machen. Henry lassen wir tausendmal danken für seine Liebe, seine Güte und seine vielen Briefe; wir werden es ihm nie vergessen. Lebwohl, Lieber; schone Dich recht und vergiß nicht zu schreiben – ich bitte Dich darum!
Genf, den 18. März 17.. Elisabeth Lavenza. »Teure, geliebte Elisabeth,« rief ich aus, nachdem ich den Brief zu Ende gelesen, »ich werde sofort schreiben und dich von der Angst befreien, die du um mich hast.« Ich schrieb – allerdings nicht ohne bedeutende Anstrengung; aber meine Genesung hatte begonnen und machte rasche Fortschritte. Nach weiteren vierzehn Tagen durfte ich das erste Mal wieder mein Zimmer verlassen.
Das erste, was ich nach meiner Genesung tat, war, daß ich Clerval bei verschiedenen Professoren der Universität einführte. Daß dabei mehrere Wunden meiner Seele wieder aufbrachen, ist nicht zu verwundern. Seit jener Unglücksnacht, die das Ende meiner Mühen, aber auch den Anfang meines Elends bildete, hatte ich einen gewissen Widerwillen schon gegen das Wort Naturphilosophie. Wenn ich auch gesundheitlich vollkommen wiederhergestellt war, so war doch schon der Anblick eines der Chemie dienenden Instrumentes geeignet, von neuem nervöse Erschütterungen hervorzurufen.
Henry hatte das gemerkt und deshalb alle Apparate wegräumen lassen. Er hatte auch dafür Sorge getragen, daß ich ein anderes Zimmer bezog, denn er empfand, daß ich ein Grauen vor dem Raume hatte, der mir bisher als Laboratorium gedient. Aber all die Vorsichtsmaßregeln halfen nicht, als wir unsere Besuche bei den Professoren machen mußten. Herr Waldmann verursachte mir Qualen, als er gütig und ehrlich die erstaunlichen Fortschritte pries, die ich in den Wissenschaften gemacht hatte.
Er fühlte bald heraus, daß mir dieses Thema unangenehm war; da er aber meine inneren Beweggründe nicht wissen konnte, schrieb er meine Verlegenheit meiner Bescheidenheit zu und wechselte das Thema insofern, als er auf die Wissenschaft im allgemeinen überging, allerdings in der Absicht, mich herauszustreichen. Was sollte ich tun? Er meinte es gut, tat mir aber weh. Mir war es wie einem, dem man nach und nach all die Instrumente vorzeigt, mit denen er dann geschunden und hingerichtet werden soll. Ich erschauerte bei seinen Worten, konnte aber meine Pein nicht zeigen. Clerval, der sehr rasch die Gedanken und Gefühle anderer zu erraten verstand, lenkte dann das Gespräch ab, in dem er seine vollständige Unkenntnis dieser Dinge entschuldigend erwähnte.
Ich dankte meinem treuen Freunde innerlich, durfte aber doch nicht diesem Gefühle mit Worten Ausdruck geben. Er war offenbar überrascht, versuchte aber niemals, mein Geheimnis zu erforschen. Und obschon ich ihn grenzenlos liebte und verehrte, brachte ich es doch nicht übers Herz, ihm das Ereignis anzuvertrauen, das immer in meiner Seele gegenwärtig war und das vielleicht auf einen andern einen noch tieferen Eindruck machen konnte als auf mich selbst.
17. Fortsetzung folgt