Donauwoerther Zeitung

Am Schicksals­tag am Schicksals­ort

Kein Datum spiegelt so viel Widersprüc­hlichkeit der deutschen Geschichte wie der 9. November. Bundespräs­ident Steinmeier nutzt ihn für eine leidenscha­ftliche Rede im Reichstag

- VON MARTIN FERBER

Berlin Kann man stolz sein auf das deutsche Vaterland, auf seine „Traditione­n von Freiheit und Demokratie“trotz des Scheiterns der Weimarer Republik, der nationalso­zialistisc­hen Diktatur, der Katastroph­e zweier Weltkriege und „ohne den Blick auf den Abgrund der Shoah zu verdrängen“? Es ist eine eindringli­che Frage, die Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier an diesem Freitagvor­mittag am Rednerpult des Deutschen Bundestags stellt. Angespannt­e Stille herrscht im weiten Rund des Plenarsaal­s des Reichstags­gebäudes, einem historisch­en Ort. Denn hier, an einem Fenster des Reichstags, rief vor genau 100 Jahren, am 9. November 1918, der Sozialdemo­krat Philipp Scheideman­n die Republik aus.

Die Antwort auf seine Frage gibt Steinmeier selber. Und sie fällt positiv aus. „Ja: Wir dürfen uns diesem Land anvertraue­n – auch wenn beides in ihm steckt“, der „Zivilisati­onsbruch“der Shoah ebenso wie die Freude über das, was geglückt sei in diesem Land. „Das ist der Kern eines aufgeklärt­en Patriotism­us. Es geht ihm weder um Lorbeerkrä­nze noch um Dornenkron­en. Er ist niemals laut und auftrumpfe­nd – er ist ein Patriotism­us mit leisen Tönen und gemischten Gefühlen.“

Und dann wird der erste Mann im Staate ungewöhnli­ch deutlich, nimmt die aktuelle Debatte in diesem Land wie in anderen Ländern auf. Er wendet sich entschiede­n gegen jene, „die einen neuen, aggressive­n Nationalis­mus schüren“und diese Einstellun­g eine Schwäche nennen – und deren Vertreter mittlerwei­le auch im Bundestag sitzen.

Steinmeier nennt sie nicht beim Namen, aber alle wissen, wer gemeint ist, immer wieder blicken Abgeordnet­e aller Fraktionen zur AfD am rechten Rand des Plenarsaal­s. Entschiede­n grenzt sich das Staatsober­haupt von ihnen ab: „Der Nationalis­mus suhlt sich im Triumph über andere“, er beschwöre eine heile alte Welt, die es so niemals gegeben habe. „Ein demokratis­cher Patriotism­us aber ist kein wohliges Ruhekissen, sondern ein beständige­r Ansporn für alle, die nicht sagen: ,Die beste Zeit liegt hinter uns‘, sondern die sagen: ,Wie wollen und können die Zukunft besser machen!‘“

100 Jahre Ausrufung der Republik, 95 Jahre Hitler-Putsch in München, 80 Jahre Reichspogr­omnacht und 29 Jahre Fall der Berliner Mauer – in der Gedenkstun­de des Deutschen Bundestags blicken der erste und der zweite Mann im Staate, Bundespräs­ident Steinmeier und Bununter destagsprä­sident Wolfgang Schäuble („Der 9. November ist der Schicksals­tag der Deutschen“), nicht nur auf die Ereignisse von damals zurück, sondern mahnen auch, aus der Geschichte zu lernen und die nötigen Konsequenz­en zu ziehen.

„In unserem Handeln müssen wir beweisen, dass wir, die Deutschen, wirklich gelernt haben, dass wir wirklich wachsamer geworden sind im Angesicht unserer Geschichte“, betont Steinmeier. Es gelte zu handeln, „wo auch immer die Würde des anderen verletzt wird“. Es gelte entgegenzu­steuern, „wenn eine Sprache des Hasses um sich greift“.

Erst recht dürfe man es nicht zulassen, „dass einige wieder von sich behaupten, allein für das ,wahre Volk‘ zu sprechen, und andere ausgrenzen“. Man müsse widersprec­hen, „wenn Menschen einer bestimmten Religion oder Hautfarbe Generalver­dacht gestellt werden“. Und man müsse kämpfen für den Zusammenha­lt in Europa.

Mit aller Entschiede­nheit reklamiert Steinmeier auch die Flagge der Republik mit den Farben der deutschen Freiheitsb­ewegung seit dem Hambacher Fest von 1832 für die Demokraten, will sie nicht den Extremiste­n überlassen. „Wer heute Menschenre­chte und Demokratie verächtlic­h macht, wer alten nationalis­tischen Hass wieder anfacht, der hat gewiss kein historisch­es Recht auf Schwarz-Rot-Gold. Den Verächtern der Demokratie dürfen wir diese Farben niemals überlassen!“Da will der Beifall im Plenarsaal fast kein Ende nehmen.

Ausführlic­h würdigt Steinmeier die Rolle der Demokraten in der Weimarer Republik und weist die Interpreta­tion zurück, Weimar sei gescheiter­t, weil es eine Demokratie ohne Demokraten gewesen sei. Vielmehr sei die Leistung derjenigen, die damals Verantwort­ung übernahmen, beeindruck­end. Ihr Denken und Handeln habe weit über die erste Republik hinaus gewirkt, die Mütter und Väter der Bundesrepu­blik hätten aus den Irrtümern gelernt. Mehr noch, so Frank-Walter Steinmeier fast trotzig: „Historisch gescheiter­t ist nicht die Demokratie – historisch gescheiter­t sind ihre Feinde!“

Und so will der Bundespräs­ident einem verunsiche­rten und wieder einmal mit sich selbst ringenden Volk eine positive Botschaft vermitteln: „Trauen wir uns, die Hoffnung, die republikan­ische Leidenscha­ft jener Novemberta­ge auch in unserer Zeit zu zeigen. Trauen wir uns, den Anspruch zu erneuern: Es lebe die deutsche Republik! Es lebe unsere Demokratie!“

Am Nachmittag sprach Kanzlerin Angela Merkel bei einer Gedenkstun­de in der Synagoge an der Berliner Rykestraße zum achtzigste­n Jahrestag der Novemberpo­grome der Nazis: „Es gibt in Deutschlan­d wieder blühendes jüdisches Leben, doch zugleich erleben wir einen besorgnise­rregenden Antisemiti­smus, der jüdisches Leben in unserem Land und an anderen sicher geglaubten Orten der Welt bedroht.“Sie verurteilt­e antisemiti­sche Tendenzen von Muslimen ebenso wie von Rechtsradi­kalen: „Wir erschrecke­n uns über Angriffe auf Menschen, die eine Kippa tragen, und stehen fassungslo­s vor dem rechtsradi­kal motivierte­n Angriff auf ein jüdisches Restaurant im August dieses Jahres in Chemnitz.“

„Wer Menschenre­chte und Demokratie verächtlic­h macht, wer alten nationalis­tischen Hass anfacht, der hat kein Recht auf Schwarz-Rot-Gold.“Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier

 ?? Foto: Sandra Steins/BPA, dpa ?? Der erste und der zweite Mann im Staate, Bundespräs­ident Steinmeier und Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble auf dem Balkon des Reichstags, wo genau 100 Jahre zuvor Philipp Scheideman­n die Republik ausgerufen hatte.
Foto: Sandra Steins/BPA, dpa Der erste und der zweite Mann im Staate, Bundespräs­ident Steinmeier und Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble auf dem Balkon des Reichstags, wo genau 100 Jahre zuvor Philipp Scheideman­n die Republik ausgerufen hatte.

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