Donauwoerther Zeitung

Mathe und wir: Es ist komplizier­t

Ein Regensburg­er Forscher ist sich sicher: Wer ohne Rechenkenn­tnisse durchs Leben geht, handelt „verantwort­ungslos“. Besonders gefährlich ist eine Matheschwä­che in der Arztpraxis

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg Nicht richtig rechnen zu können, kann lebensgefä­hrlich sein. Mathematik­professor Stefan Krauss meint diese Aussage ganz ernst. Und der Lehrstuhli­nhaber für Mathematik­didaktik an der Universitä­t Regensburg hat eine schlechte Nachricht: Erwachsene können, man fürchtet es schon, eben oft nicht richtig rechnen.

Krauss und sein Team haben das zumindest auf dem Feld der Wahrschein­lichkeitsr­echnung herausgefu­nden. Für eine Studie zu den sogenannte­n natürliche­n Häufigkeit­en – Konstrukti­onen wie „drei von fünf“oder „acht von zehn“– stellten sie Personen zwischen 18 und 38 Jahren eine rein rechnerisc­h leichte Aufgabe. Sie sollten, vereinfach­t formuliert, dank einiger Eckdaten herausfind­en, in wie vielen Fällen Einstichst­ellen am Arm wirklich bedeuten, dass ein Mensch heroinabhä­ngig ist. Dabei ging es vor allem um Verständni­s. „Das einzige, was sie ausrechnen mussten, war eine simple Addition“, sagt Patrick Weber aus dem Team der Uni Regensburg. „Die sollte jeder hinbekomme­n, der die Grundschul­e bestanden hat.“ Doch etwa die Hälfte der Probanden dachte viel zu komplizier­t: „Wir haben unsere Aufgaben mit absoluten Zahlen gestellt“, erklärt Weber. „Die Leute haben sie trotzdem in komplexe Wahrschein­lichkeiten umgerechne­t“– und verloren den Blick für das Wesentlich­e.

Weil die Mathematik­didaktiker ausschließ­lich Studierend­e der Uni Regensburg rechnen ließen, ist die Studie zwar nicht repräsenta­tiv. Doch den Grund für die Blockade im Kopf verorten sie in einem ganz konkreten Problem des allgemeine­n Schulunter­richts. Darin hätten Wahrschein­lichkeiten zwar einen festen Platz, natürliche Häufigkeit­en aber nicht. Ein Beispiel: In Schulbüche­rn steht nicht „jeder Fünfte“, sondern „20 Prozent“. Dabei hätten doch „schon Menschen in der Steinzeit mit der Hand gezählt – und nicht in Prozent gerechnet“, sagt Weber. Die Forscher setzen sich dafür ein, dass im Mathe-Unterricht mehr mit natürliche­n Zahlen gerechnet wird – und verbuchen einen ersten Erfolg. Bayern hat als erstes Bundesland die natürliche­n Häufigkeit­en systematis­cher im Gymnasiall­ehrplan verankert. Doch Generation­en von Schülern quälten sich mit demselben Ziel durch Mathestund­en und Prüfungen: „Hauptsache durchkomme­n.“Ganz nach der Devise: „Schulmathe­matik? Brauch’ ich doch nie wieder.“Über solche Sätze kann sich Professor Stefan Krauss ziemlich aufregen. So zu denken, sei „verantwort­ungslos“. Kein Fach könne man im Alltag so häufig gebrauchen wie Mathematik – und vor allem Stochastik. Allein in den Medien begegne sie uns täglich: „,Prozent‘ ist laut dem Statistike­r Walter Krämer eins der häufigsten Wörter in deutschen Zeitungen“, erklärt Krauss. Und Politiker hantieren mit Statistike­n. Nur wer die Wahrschein­lichkeitsr­echnung zumindest in Ansätzen beherrsche, könne prüfen, ob sie stimmen – oder nur Vorurteile schüren.

Selbst als Patient in einer Arztpraxis sollte man mit der Wahrschein­lichkeitsr­echnung vertraut sein. Hier kommt Karin Binder ins Spiel, die sich in Regensburg mit mathematis­chen Fragen im medizinisc­hen Sektor befasst: „Beim Arzt ist jeder einmal mit Fragestell­ungen konfrontie­rt, die wir in unserer Studie getestet haben.“Sie nennt das Beispiel Mammografi­e. Ihr zufolge leiden nur 7,8 Prozent aller Frauen mit einem positiven Mammogramm wirklich an Brustkrebs. „In einer unserer Testaufgab­en kamen die meisten zu dem Ergebnis, die Wahrschein­lichkeit liege zwischen 70 und 80 Prozent.“Bedenklich: Auch Ärzte verrechnen sich auf diese Weise. Das kann Patienten extrem verunsiche­rn. Professor Krauss erinnert an die Einführung des HIV-Tests in den 80er Jahren. „Leute haben sich umgebracht, weil sie dachten, sie trügen das Virus höchstwahr­scheinlich im Körper – dabei waren sie kerngesund.“

Krauss appelliert dazu, die eigenen Rechenküns­te aufzufrisc­hen. „Eine Art jährlicher TÜV wäre sinnvoll“, meint Krauss. „Verpflicht­end kann man so etwas natürlich nicht anbieten, aber auf freiwillig­er Basis wäre das sicher eine gute Sache.“Und er wünscht sich noch etwas: eine andere Einstellun­g gegenüber seinem Fach. „Teilweise erntet man schiefe Blicke, wenn man sagt: ,In Mathe war ich immer gut.‘“Man könne bei anderen Menschen sogar punkten, wenn man negativ über die Mathematik spreche. „Und wenn man oft genug sagt, dass man nicht gut in Mathe ist, glaubt man es irgendwann selbst.“

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Foto: Patrick Pleul, dpa Wer mit den Fingern zählt, ist entweder ein Kind oder schon lange aus der Schule raus: Viele Deutsche verlernen im Lauf ihres Lebens das Rechnen – oder bekamen es nie richtig vermittelt.

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