Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (2)
DLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
ies wurde ihm freilich schwerer als andern Jungen in ähnlicher Lage, da ihn seine Loyalität an Abmachungen band und seine geistige Selbständigkeit ihn verhinderte, sich einem Altersgenossen anzuvertrauen.
Es war ihm auch nicht möglich, sich einer der Gruppen oder Parteien anzuschließen, die sich unter den Kameraden gebildet hatten und fortwährend neu bildeten. Er hatte keine Freude an ihren Debatten und nahm an ihren Versammlungen nur selten und widerwillig teil. Kaum war er zu bewegen, sich zu einer Frage beistimmend oder ablehnend zu äußern, und ihre kategorischen Erledigungen erweckten nichts als Zweifel in ihm. In seiner Zurückhaltung lag mehr Mut als in dem Geschrei der Draufgänger, das wurde eingesehen. Sonderbar genug, man achtete ihn deshalb. Trotzdem war der einzige Freund, den er hatte (für sich selbst schränkte er den Titel Freund vorsichtig ein, nach außen ließ er ihn aus Courtoisie gelten), ein
Radikalist und unruhiger Kopf; aber schließlich war es ja nicht die Gesinnung Robert Thielemanns, deretwegen er ihn zum Gefährten erwählt, sondern eine gewisse Breite und Offenheit der Natur, die ihm gefiel; und so entstand ein Verhältnis, das auf Temperamentsausgleich gegründet war, wobei sich groß und klein, plump und beweglich, rauh und zart im Gegensatz ergänzten. Thielemann liebte es, den Beschützer Etzels zu spielen, um dessen geistige Überlegenheit oder Überlegenheit der persönlichen Form er übrigens wußte. Für seine manchmal ans Bizarre streifende Ursprünglichkeit im Denken und Urteilen fehlte ihm das Verständnis, aber die körperliche Unentwickeltheit Etzels und seine scheue Feinheit (unter der sich allerdings eine für ihn nicht wahrnehmbare Kraft verbarg) trieben ihn dazu, den Jüngeren und Schwächeren zu bemuttern. Und nicht nur er allein, alle Kameraden gingen glimpflich mit ihm um.
Etzel idealisierte, wie gesagt, seine Freundschaft mit Thielemann nicht. Er erkannte klar das Vorläufige wie das Ungenügende daran und benahm sich wie jemand, der, vielleicht aus Bescheidenheit, vielleicht um nicht aufzufallen, vielleicht weil er nichts Besseres gefunden hat, mit einer ziemlich engen Behausung vorliebnimmt, obwohl ihm seine Mittel gestatten würden, eine bessere zu beziehen. Das Gefühl des Provisorischen herrschte überhaupt bei all seinen Beziehungen in ihm vor, ohne daß er wußte, woher es kam, und ohne daß er dagegen anzukämpfen vermochte. Mühsam genug, es nach außen hin zu verheimlichen, wenn er es in manchen Momenten sich selber nicht mehr verheimlichen konnte. Das war es eben, er hatte die Gabe, sich selber was zu verheimlichen: ein schwieriger Prozeß, der Schlauheit und einige Phantasie erfordert. (Er legte aber keinen Wert auf Phantasie, er wollte nichts wissen von der Phantasie, und das war eine weitere Merkwürdigkeit seines Charakters.)
Gern hätte er mit Robert Thielemann über den Mann mit der Kapitänsmütze gesprochen, unterließ es jedoch, da er fürchtete, auch sich selbst die Beunruhigung, die von ihm ausging, zu deutlich zu enthüllen. Die dreimal wiederholte Erscheinung des Alten beschäftigte und verdunkelte unablässig seine Gedanken. An dem Tage, wo er Zeuge wurde, daß der mysteriöse Mensch auch seinem Vater auf dessen Wegen folgte, auch ihm gegenüberzutreten wagte und daß dies, bei allem Hochmut, bei aller kalten Unnahbarkeit, kein gleichgültiger Eindruck für den Vater zu sein schien, keine verächtliche Episode, dessen glaubte Etzel sicher zu sein, an dem Tage verwandelte sich die bloße Beunruhigung in gereiztes, fortwährend anwachsendes Mißtrauen, das gegen alle und alles in seiner Umgebung gerichtet war, als trügen die Mauern nicht mehr verläßlich das Dach, als seien penetrante Giftstoffe in den Schränken aufbewahrt, als brenne im Keller eine Zündschnur, die demnächst eine Kiste Dynamit zur Explosion bringen mußte.
Dieser peinlich abwartende Zustand dauerte mit größeren oder geringeren Pausen an, bis ihm in einem der Aktenfaszikel des Vaters das Schriftstück in die Hände geriet, das dann sein ganzes ferneres Schicksal entscheidend beeinflußte.
Gehaben und Aussehen des Mannes mit der Kapitänsmütze, obwohl zunächst unauffällig und alltäglich, hatten dennoch etwas Gespenstisches, schon durch die Beharrlichkeit und bohrende Aufmerksamkeit, mit der er den Knaben von der ersten Sekunde der Begegnung an betrachtete, ihm eine Zeitlang auf Schritt und Tritt folgte, ihn dann zu überholen suchte, um ihn, wenn dies gelungen war, aufs neue anzustarren und schließlich, wie er unerwartet aufgetaucht war, unerwartet wieder zu verschwinden. Es war ein kleiner, hagerer, alter Mann, kein „Herr“, auch kein Arbeiter, sondern dem Anschein nach ein Kleinbürger.
Er mochte etwa siebzig Jahre alt sein, sah aber ziemlich rüstig aus und bewegte sich nicht ohne Flinkheit. Er trug einen schäbigen braunen Pelzrock, die Hände staken in Wollhandschuhen, über den Handgelenken hatte er außerdem sogenannte Pulswärmer mit rotem Saum, der linke Arm hing starr am Körper herab. Die beiden ersten Male hatte er eine kurze englische Pfeife geraucht, oder vielleicht war sie nur kalt zwischen den Zähnen gesteckt; jedenfalls gewahrte man hinter den strichdünnen, glattrasierten Lippen die schadhaften, beinahe schwarzen Zähne. Etzel hätte jede Linie des knochigen, verräucherten, boshaften Gesichts zeichnen können, die kleinen, spähenden, glitzernden Augen, die einen astigmatischen Blick hatten, wie wenn eines davon ein Glasauge wäre, die komisch abstehenden Ohren, die über graugrüne Backenbartbüschelchen hinausragten und an zwei häßliche, bis auf die Haut entfiederte Vögel in einem verdorrten Gestrüpp erinnerten. Das erste Mal hatte ihn Etzel auf der unteren Mainbrücke gesehen. Er befand sich in Gesellschaft von Robert Thielemann, dem Stotterer Schlehlein, dem langhalsigen Max Schuster, der eine Rolle in der Jugendbewegung spielte, dem dicken Klaus Mohl (dem Fresser, wie sie ihn wegen seines ewigen Heißhungers nannten) und Müller I und Müller II. Es hatte sich ein politischer Streit erhoben. Veranlassung war eine erbitterte Bemerkung Thielemanns über die perfiden Umtriebe Schusters gewesen. Die von ihm geführte Gruppe hatte gehässige Gerüchte über die republikanische Gruppe ausgestreut, und Thielemann warf ihnen ihr niederträchtiges Ränkespiel vor und daß sie sich, ohne jemals Farbe zu bekennen, wie ausgestopfte Puppen von Leuten hin und her schieben ließen, von denen sie nicht einmal wußten, ob sie nicht bezahlte Werber der Reaktion waren. „Ihr seid mir saubere Brüder“, rief er immer wieder aus, und der gemütlich breite Dialekt bildete einen komischen Gegensatz zu seinem Zorn. Er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, sein Gekräh erregte die Mißbilligung der Vorübergehenden.