Verliert Hartz IV seine schärfste Waffe?
Hintergrund Nach 15 Jahren wackelt das Grundprinzip der Agenda 2010: Das Verfassungsgericht könnte die Praxis des „Forderns“durch Sanktionen bald beenden. Ist auch das „Fördern“nur eine Lebenslüge? Ein Betroffener erzählt, warum er aus seiner Sicht weder
Augsburg Wohl kaum jemand würde Thomas Kästner mit seinem kleinen Hund für einen langjährigen HartzIV-Empfänger halten. Der studierte Opernsänger zählt einen berühmten Dirigenten zu seinem Freundeskreis, kennt sich im Kulturbetrieb aus und macht einen zupackenden Eindruck. Doch seit genau zehn Jahren steckt der 48-jährige Augsburger fest im System aus Langzeitarbeitslosigkeit, Zeitarbeitsangeboten und Gelegenheitsjobs. Kästner zählt dabei seit 2009 fast ununterbrochen zu den knapp 320000 Hartz-IV-Empfängern in Bayern, die im „erwerbsfähigen Alter“sind. Wie kommt es dazu in einem System, das sich das Prinzip „Fördern und Fordern“als Maxime auf die Fahnen geschrieben hat?
Kästner, der in Wirklichkeit anders heißt und als Hartz-IV-Empfänger seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, merkte bereits schnell nach seinem Diplom, dass sein Traum einer OpernsängerKarriere zum Scheitern verurteilt ist. „Heute muss ich sagen, ich war damals nicht gut genug“, erzählt der Augsburger. „Gesangstechnisch haben mir ein paar Dinge gefehlt, die ich in meinem Studium noch gar nicht gelernt hatte.“
Auch in dem harten Wettbewerb um Rollen an Theatern fehlten dem sensiblen Künstler die nötigen Ellbogen und wohl auch das Durchhaltevermögen: „Irgendwann habe ich aufgegeben, an Vorsingen teilzunehmen.“Als freiberuflicher Chorsänger reichte das Geld zum Leben nicht. Gerne hätte er, wie bei einem befristeten Job an der Deutschen Oper in Berlin, weiter in einem Orchesterbüro gearbeitet, doch auch solche Stellen seien in der überschaubaren Theaterlandschaft rar.
Als er irgendwann nach vielen gleichzeitigen Nebenjobs als HartzIV-Empfänger im Jobcenter seiner Heimatstadt Augsburg aufschlägt, denkt Kästner nicht, dass dies für ihn die Endstation werden könnte. Er hegt große Hoffnungen auf eine zweite Chance. Intensiv hat er über- wie er einen neuen Beruf findet, der auf seiner Ausbildung und geschulten Stimme aufbaut. „Ich wollte, dass mir das Amt eine Ausbildung zum Logopäden finanziert“, sagt der Sänger.
Doch das Jobcenter lehnt ab. Es will die Kosten für die dreijährige unbezahlte Ausbildung zum Sprecherzieher an einer staatlich anerkannten Fachschule nicht finanzieren. Das Amt rät ihm, weiter nach einem Kulturbüro-Job zu suchen. Kästner legt Widerspruch ein. Er zieht vor Gericht und gewinnt: Das Sozialgericht habe entschieden, dass das Jobcenter die LogopädenAusbildung bezahlen müsse, erzählt er. Doch wenig später habe die Behörde Berufung eingelegt.
Fast ein Jahr später habe dann das Münchner Landesozialgericht in zweiter Instanz erklärt, das Amt solle zwar eine Ausbildung bezahlen, es liege der Behörde aber frei, den Berufswunsch Logopäde dabei abzulehnen, berichtet Kästner. „Das Ganze ist dann im Sande verlaufen“, sagt der Augsburger. Trotz des juristischen Erfolgs gibt er auf und fällt zurück in das Loch von Arbeitslosigkeit und schlecht bezahlten Zeitarbeitjobs, die ihm auf seine Unterstützung angerechnet werden.
„Die Motivation war weg“, sagt Kästner. „Das waren ja keine Flaulegt, sen im Kopf, sondern die ernsthafte Frage, was mache ich mit meiner Ausbildung, meinem Wissen, Können und meiner Stimme.“Viele Sänger hätten in ähnlicher Situation auf Logopäde umgeschult, doch ihm fehlte das Geld. „Ich habe mich in all den Jahren weder gefordert noch gefördert gefühlt“, sagt Kästner. „Man kommt sich vor wie Schrankware: Einmal im Jahr bekommt man eine Einladung und erzählt, wie es einem geht.“
Das „Fordern“im Hartz-IV-System beruht vor allem auf der Drohung mit Sanktionen: Nach einem Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht können 10, 30, 60 oder bei mehrfachem Fehlverhalten auch bis zu 100 Prozent der Hartz-IV-Bezüge für je drei Monate gestrichen werden. Etwa wenn zumutbare Jobs abgelehnt oder hartnäckig Termine geschwänzt werden.
Kästner zählt zu den 97 Prozent Hartz-IV-Empfängern, die nie Probleme mit Sanktionen hatten. Doch nun steht das Sanktionssystem wegen einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht möglicherweise vor dem Aus. An diesem Dienstag wird in Karlsruhe verhandelt.
Angestrengt hat das Verfahren im Wesentlichen weniger ein HartzIV-Empfänger, sondern der Richter am Sozialgericht Gotha in Thüringen, Jens Petermann. Der 55-Jährige saß bis 2013 vier Jahre lang als Abgeordneter für die Linke im Bundestag und ist Richter am Thüringer Verfassungsgericht. Petermann lässt keinen Zweifel daran, dass er die Sanktionen letztlich für einen Verstoß gegen die im Grundgesetz definierte Verpflichtung des Staats hält, für ein Existenzminimum seiner Bürger zu sorgen.
Vor Petermanns Sozialgericht klagte ein Hartz-IV-Empfänger dagegen, dass ihm die Leistung wegen der Ablehnung eines Arbeitsangebots um 60 Prozent gekürzt wurde. Er machte dabei auch verfassungsrechtliche Bedenken geltend. Die Kammer folgte der Klage, legte das Verfahren direkt den Karlsruher Richtern vor und bat das Bundesverfassungsgericht um Klärung. Möglicherweise wird nun bereits in der mündlichen Verhandlung deutlich, wie das spätestens in einigen Wochen erwartete Urteil ausfallen
Die erste Instanz folgte der Klage gegen die Sanktionen
wird. Es platzt mitten in eine Debatte um eine grundsätzliche Reform des Hartz-IV-Systems, das die mitregierende SPD am liebsten unter einem anderen Namen weitgehend umgestalten will.
Für den Augsburger Hartz-IVEmpfänger Kästner geht die Debatte um Sanktionen am Thema vorbei. Er wünscht sich eine Diskussion über bessere Chancen und Betreuung von Langzeitarbeitslosen. „Man fühlt sich wie ein Kind am Rand des Sandkastens, das bei den anderen nicht mitspielen darf“, sagt er. Erstmals habe er nun einen sogenannten „Ein-Euro-Job“in der Altenbetreuung angeboten bekommen. „Das mach ich jetzt seit drei Monaten und bin sehr zufrieden und könnte mir vorstellen, das auch in Zukunft zu machen“, sagt er. „Ich mache lieber einen niedrig bezahlten Beruf, als zu Hause rumzusitzen. Aber ich muss mich damit abfinden, dass ich nie mehr Geld haben werde, als ich unbedingt brauche.“