Verlängerung des algerischen Dilemmas
Analyse Zwar hat sich das Regime scheinbar bewegt, aber das Misstrauen bleibt
Algier Für Algeriens Bevölkerung waren die vergangenen drei Wochen eine ganz neue Erfahrung. Hunderttausende gingen auf die Straßen, um ihrem jahrzehntelangen Frust über die Herrschenden Luft zu machen. Am Montagabend reagierte das eiserne Machtkartell erstmals und wich einen Schritt zurück. Präsident Abdelaziz Bouteflika blies seine fünfte Kandidatur ab und verschob den Wahltermin.
Für die Demonstranten ein erster Sieg, doch der Kampf ist noch lange nicht entschieden. Denn die algerische Nomenklatura, ein undurchsichtiges Geflecht von Politikern, Generälen und Oligarchen, spielt auf Zeit. Sieben Punkte umfasst das auf den ersten Blick wie ein wohlmeinender Reformfahrplan klingende Manifest des Präsidentenpalastes. „Wir haben verstanden“, könnte als Überschrift über dem Text stehen, der geradezu strotzt von bombastischen Vorsätzen und fulminanten Versprechungen.
Doch einen Tag danach keimt im Volk bereits wieder frisches Misstrauen an dem wirklichen Reformwillen des Regimes. Von Tricksereien sprachen demonstrierende Studenten am Dienstag und schworen, das gesamte Mafia-System müsse weg. Denn schon die neue Interimsregierung, der angeblich die Besten und Fähigsten des Landes angehören sollen, führt wieder ein altbekanntes Gesicht – Innenminister Noureddine Bedoui. Auch Bouteflika selbst bleibt weiter an Bord. Bis zur Wahl eines Nachfolgers will er sein Amt behalten, also mindestens bis zum Frühjahr 2020, ein Jahr länger, als es die derzeitige Verfassung erlaubt.
Zur zentralen Schnittstelle zwischen der alten und der neuen Zeit jedoch rief das Bouteflika-Memorandum eine sogenannte Nationale Konferenz aus. Auf dem Papier sollen ihr alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen und Oppositionsparteien angehören, Änderungen an der Verfassung erarbeiten und das Ergebnis bis Ende 2019 dem Volk zum Referendum vorlegen. Diese verfassungsgebende Versammlung jedoch wird nicht von der Bevölkerung gewählt. Sie wird von den angestammten Machthabern ernannt, was ihre Legitimität von vornherein schmälert. Denn Staatschef Bouteflika, die Regierung, die Armee und die Geheimdienste behalten die Kontrolle darüber, wer aus dem algerischen Volk sich künftig Gedanken über neue Staatsstrukturen machen darf und wer nicht.
Zudem sitzen Modernisierer in dem Plenum am kürzeren Hebel, weil die Zeit gegen sie läuft. Bis zum Spätsommer, wenn sich die Nationale Konferenz konstituiert, ist der Elan der Massenproteste des Frühjahrs wahrscheinlich verflogen. Gleichzeitig verlängert jeder Konflikt und jedes Veto in dem Verfassungsprozess automatisch die Amtszeit des greisen kranken Präsidenten und dessen Schattenreich. Die Reformkräfte könnten daher am Ende des Jahres vor der Wahl stehen, sich mit einigen kosmetischen Novellierungen an einzelnen Grundgesetzartikeln abzufinden, um endlich den Weg frei zu machen für die Wahl eines Nachfolgers von Bouteflika.
Und so steht die aufgebrachte Bevölkerung in den kommenden Tagen vor einem fundamentalen Dilemma. Lässt sie sich auf den Bouteflika-Fahrplan ein, könnten die 42 Millionen Bürger am Ende erneut mit leeren Händen dastehen. Mobilisiert das Volk weiter zu Massendemonstrationen gegen die Staatsmafia, ihre Korruption und ihre Privilegien, wächst die Gefahr von Konfrontation und Gewalt – und das in einer Nation, deren Bürgerkrieg mit 200 000 Toten kaum zwei Jahrzehnte zurückliegt.