Die Toten fahren mit Der Charme der Wienerin belebt alte Mythen
Vea Kaiser
Bis Seite 147 ist eigentlich alles klar. Da ist nämlich auf der einen Seite der Lorenz, ein schnöseliger Wiener Anfang 30, Schauspieler, bloß ohne Engagements, dafür aber mit dem Drang, teuren Nippes im Internet zu bestellen. Und darum wäre er am Ende seines Prinzendaseins, wenn ihn nicht dauernd seine Freundin Stephi mitfinanzieren oder er sich nicht zwischendurch immer wieder bei den drei Tanten in der Vorstadt durchfuttern würde. Letztlich wohl eine arme Wurscht, der Lorenz, aber vor allem ein nerviger Typ, dem man sogar gönnt, dass die Stephi ihn abserviert, er also doch auf dem Arsch landet.
Umso mehr, weil da eben noch die andere Seite ist. Szenen von einst, aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als jene drei Tanten jung waren und dazu der Onkel Willi, der ursprünglich aus Montenegro kommt. Alle mussten sie nach dem Krieg mit Verlust und Armut leben, der Willi mit einem gewalttätigen, saufenden Vater, die späteren Tanten in einem Haus mit fünf Kindern, aber ohne Vater. Alles klar also: Die hatten Grund zu Traurigkeit, ertrotzten sich aber tapfer ein Leben, während der Lorenz bloß seine Luxus-Melancholie pflegt und denkt, ihm stünde ein tolles Leben irgendwie einfach zu. Starker und wahrhaftiger Kontrast – ob man auch Freude daran hat, hängt davon ab, ob man den launigen Erzählstil dazu als bereichernd empfindet. Etwa: „Er besorgte Karten für die Opern, die sie zum Weinen brachten, weil sie die Arien der Sängerinnen an das Greinen der Katzen erinnerte, deren Junge der Lehrer in der Regenwassertonne ertränkt hatte.“
Doch dann kommt eben Seite 147. Denn überhaupt ist das hier ja ein Roman von Vea Kaiser, jener immer noch erst 33-jährigen Wienerin, die bereits vor zehn Jahren mit „Blasmusikpop“ein sensationell erfolgreiches Debüt landete und mit „Makarionissi“bereits einen bezaubernden Nachfolger drauflegte. Und das heißt: Das Fabulieren kann hier jederzeit bunteste Blüten treiben. Und so stirbt auf jener Seite plötzlich der ziemlich tolle Onkel Willi. Und weil der seiner Frau ein letztes Versprechen abgenommen hat („Wenn ich tot bin, möchte ich in Montenegro begraben werden.“), aber keiner das Geld hat, um die Überführung dorthin zu bezahlen…– genau: Es geht in Hälfte zwei also auf einen Roadtrip. Der Neffe und die Tanten packen den Toten tiefgekühlt in einen Fiat Panda. Los geht’s, 1042 Kilometer. Und fortan wechseln abenteuerliche Geschichten dieser Fahrt mit abenteuerlichen Geschichten, die die Vergangenheit weiter ausleuchten.
Wie wird die Stephi später sagen, als der Lorenz ihr von all dem erzählt, als hätte er es sich für ein Drehbuch ausgedacht: „Wow … Das nenn ich eine verrückte Idee. Ein bisschen unglaubwürdig, aber es ist ja ein Film.“Und das trifft – bei allem sinnlich schwelgenden Realismus im Leben der Tanten – auch auf den Roman zu. Aber der studierten Altphilologin Vea Kaiser geht es ja eh eher um den Charme ihres Erzählens – und um den mythischen Zauber der Geschichte.
Der Untertitel ihres „Rückwärtswalzer“lautet schließlich: „Die Manen der Familie Prischinger“. Und jene Manen sind nach der Antike die Toten, die die Lebenden weiterhin begleiten – beschützend oder quälend. Der tiefgefrorene Willi aber ist da nur der letzte, eher leichtgewichtige Neuzugang. Und plötzlich erhält auch der Lorenz Einblick in jede Menge Familiengeheimnisse. Ob das den Typen von sich selbst kuriert? Den Leser unterhält Vea Kaiser damit jedenfalls gut – wenn er üppige Speisen denn mag und verdauen kann. Wolfgang Schütz Vea Kaiser: Rückwärtswalzer