Nicht weniger Literatur!
Interview Arne Dahl und Simon Beckett über das goldene Zeitalter des Krimi-Genres
Mr. Beckett, Mr. Dahl, erst einmal Gratulation zum Europäischen Preis für Kriminalliteratur. Welche Wirkung haben derartige Literaturpreise auf Sie und Ihren Schreibprozess?
Simon Beckett: Ein Preis oder allein schon eine Nominierung geben dem Selbstbewusstsein großen Auftrieb, keine Frage. Und ich freue mich immer darüber. Aber es ist nicht so, dass nur eine Auszeichnung stark motiviert oder den Druck erhöht. Beides passiert ohnehin; man will immer das beste Buch schreiben, das man kann. Wenn man beim Schreiben aber schon den Preis im Kopf hat, muss das zu einer Enttäuschung führen. Entweder es passiert, oder eben nicht.
Arne Dahl: Mir geht das ähnlich. Ein Preis spornt mich total an, ohne dass zusätzlicher Druck damit verbunden wäre. Es ist ein Zeichen, dass man etwas richtig macht. Und als Autor, der meist allein arbeitet, braucht man jede Form von Ermutigung, egal wie erfolgreich man ist. Der Druck kommt immer von innen.
Hatten Sie Auflagen und Preise im Sinn, als Sie vor etwa 20 Jahren mit dem Schreiben von Büchern anfingen? Dahl: Nein, überhaupt nicht. Wer als Autor ans Geld oder an Ruhm denkt, hat schon verloren. Im Rückblick hat es mir sicher gutgetan, dass ich keinen großen Erfolg mit meinen ersten Büchern hatte. Alles ist langsam gewachsen, und erst als ich mir das Pseudonym Arne Dahl gab und 1998 mit der A-Gruppe begann, ging es schrittweise bergauf. Auf diese Weise habe ich nie die Bodenhaftung verloren.
Beckett: Ich habe viele Jahre lang nur Absagen auf meine Manuskripte bekommen und mein Geld als Journalist und Lehrer verdient. Damals wollte ich einfach nur, dass endlich einmal ein Buch veröffentlicht wird – damit meinen Lebensunterhalt zu verdienen, stand völlig außer Frage. Auch als „Die Chemie des Todes“2006 so ein riesiger Erfolg wurde, blieb ich skeptisch, ob daraus tatsächlich mein Beruf werden könnte.
Was brauchen Sie, um effektiv schreiben zu können?
Dahl: Nicht viel. Sobald ich eine Idee und ein Konzept für einen neuen Roman habe, kann ich fast überall schreiben, auch auf Reisen. Früher, als meine beiden Töchter noch klein waren, wurde ich natürlich oft abgelenkt, und manchmal brachten die Kinder meine Unterlagen durcheinander. Aber das gehört dazu; wenn ich schreibe, bin ich automatisch in der Welt meiner Protagonisten. Beckett: Genau. Was in der Realität passiert, verliert in diesen Phasen an Bedeutung. Ich erinnere mich, dass einmal nebenan Bauarbeiter einen Höllenlärm veranstalteten, und dennoch blieb ich in meinem Arbeitszimmer sitzen und schrieb, ohne wirklich abgelenkt zu werden.
Wie beurteilen Sie die europäische Kriminalliteratur im internationalen Vergleich?
Beckett: Kriminalliteratur scheint zurzeit ein Goldenes Zeitalter zu erleben, und vor allem die europäische Kriminalliteratur blüht offenbar weiter auf. Noch vor ein paar Jahren gab es in britischen Buchläden nur wenige Bücher von europäischen Autoren; jetzt, trotz Brexit, sind die Regale voll davon. Leser lieben gute Bücher, und dazu gehören definitiv europäische Werke. Deshalb glaube ich auch, dass sich das nicht mehr ändern wird.
Dahl: Das deckt sich mit meinem Eindruck: Die europäische Kriminalliteratur wächst seit Jahren. Vor
„Lesen bedeutet das Aufschließen der Seele“
gar nicht allzu langer Zeit waren fast nur Krimis aus englischsprachigen Ländern erhältlich. Sie sind weiterhin stark vertreten, aber heute gibt es eine neue Breite des Angebots, und neue Erzähltraditionen aus anderen Ländern werden entdeckt. In der europäischen Kriminalliteratur gibt es einen größeren Raum für Komplexität – die Grenze zwischen Thrillern und anderen Romanen verschwindet. Europäische Krimis und Thriller sind lebendige Literatur, nicht mehr und nicht weniger.
Halten Sie Ihre eigenen Romane für typisch europäisch?
Beckett: Gute Frage. Meine Bücher sind jedenfalls nicht nach typischen Polizeiabläufen konstruiert, wie viele Krimis, die als typisch britisch gelten. Ich versuche aber, meine Romane nicht zu sehr zu analysieren – es sollen lieber andere Leute entscheiden, wie sie diese nennen. Dahl: Einige meiner Romane sind explizit europäisch – vermutlich ist es schwer, noch europäischer zu schreiben, als ich das in meiner Opcop-Reihe über eine europäische Sondereinheit getan habe. Aber auch davon abgesehen, betrachte ich mein Schreiben als typisch europäisch, manchmal sogar typisch schwedisch. Von Anfang an wollte ich etwa darüber schreiben, welchen Bedrohungen die europäischen Demokratien und das vereinigte Europa ausgesetzt sind. Und in diesen 20 Jahren sind meine fiktiven Bedrohungen tatsächlich real geworden. Ich glaube, wir leben inzwischen in sehr gefährlichen Zeiten.
Können Ihre Romane denn etwas gegen die Tendenzen zu Separatismus und Nationalismus in Europa ausrichten? Dahl: Ich war früher optimistischer, was die mögliche Wirkung von Literatur betrifft. Trotzdem glaube ich immer noch, dass der Akt des Lesens – diese tiefe, innere Reise in ein anderes, unbekanntes Universum – die stärkste Kraft der Welt ist, um Menschen miteinander zu verbinden. Lesen bedeutet das Aufschließen der eigenen Seele. Und jeder Krimiautor, der sein Genre ernst nimmt, hat die Möglichkeit darüber zu schreiben, woher – politisch und gesellschaftlich – der Wind weht. Das Kriminelle ist eng mit der ganzen Welt verbunden, was nicht zuletzt das Auftauchen von Donald Trump zeigt. Also ist Kriminalliteratur mehr denn je ein wichtiger Weg, um scharfsinnig auf Verbrechen aufmerksam zu machen, nicht nur in Europa. Beckett: Ja, denn in Zeiten wie diesen ist alles gut, was potenziell mehr verbindet als trennt. Kriminalliteratur besitzt sicher grundsätzlich die Fähigkeit, gesellschaftliche Entwicklungen abzubilden. Ich versuche, meine Bücher in einer wiedererkennbaren Welt zu verankern, was bedeutet, dass manchmal gesellschaftlich relevante Aspekte darin vorkommen. Aber ich würde nicht sagen, dass Krimis dies tun müssen. Ein Krimi muss nichts anderes leisten, als seine eigene spezielle Geschichte zu erzählen. Wenn sich Autoren wie Arne Dahl dazu entscheiden, explizit gesellschaftliche Themen aufzugreifen, finde ich das trotzdem großartig.
Hat der riesige Erfolg Ihr Leben oder Ihr Schreiben verändert?
Beckett: Eigentlich nicht. Ich sitze noch genauso am Computer und tippe wie bei meinen ersten Romanen. Man muss als Autor sehr diszipliniert sein, und daran ändert auch der Erfolg nichts. Meine Frau ist nach wie vor meine wichtigste Unterstützerin und Kritikerin – auch sie lässt sich von Nummer-1-Platzierungen nicht blenden. Sie sagt, wie es ist, und dann fange ich eben manchmal wieder von vorne an.
Dahl: Das ist tatsächlich so. Hinzu kommt: Der Erfolg verändert kaum den kritischen Blick aufs eigene Schreiben. Mir fällt es jedes Mal schwer, ein Buch endgültig abzuschließen. Wenn es dann frisch gedruckt vor mir liegt und ich zur Probe irgendeine Seite aufschlage, entdecke ich sofort einen Fehler oder etwas, das ich viel besser hätte machen können. Dagegen hilft nur, einen neuen Roman anzufangen.