Donauwoerther Zeitung

Was den Brandstift­er Erdogan antreibt

In immer schnellere­r Folge führt der türkische Präsident sein Land in politische und militärisc­he Konflikte. Jetzt könnte er an seine Grenzen stoßen

- VON SIMON KAMINSKI ska@augsburger‰allgemeine.de

Rückblicke können gute oder schlechte Erinnerung­en wachrufen und melancholi­sch stimmen. Der Blick zurück zum Beginn der Ära Recep Tayyip Erdogan, die bereits 18 Jahre andauert, löst tatsächlic­h Melancholi­e, aber vor allem Fassungslo­sigkeit aus.

Im Jahr 2002 gewann Erdogans Partei AKP die türkischen Parlaments­wahlen: Es begann eine Phase der Hoffnung. Seit 2003 Ministerpr­äsident, öffnete Erdogan die Vorhänge: Er stärkte die Meinungsfr­eiheit, schaffte die Todesstraf­e ab, ging auf die benachteil­igten Kurden zu und rief den Beitritt zur EU als Ziel für die Zukunft aus. Trotz der streng religiösen Elemente in seiner Politik war er der Mann, dem viele zutrauten, die Türkei mit Reformen zu demokratis­ieren.

Auch heute gibt es eine – noch längere – Liste, die von Taten des heutigen Präsidente­n Erdogan kündet: Türkische Truppen mischen im Kriegsland Syrien mit, sie destabilis­ieren den Irak. Ankara missachtet ein UN-Verbot, Waffen oder Kämpfer in das Bürgerkrie­gsland Libyen zu schicken. Im Mittelmeer provoziert die Türkei mit Probebohru­ngen Griechenla­nd und die EU, reklamiert ganze Seegebiete, in denen Bodenschät­ze vermutet werden, für sich.

Das alles ist verantwort­ungslos und atemberaub­end. Doch offensicht­lich soll gar nicht erst die Hoffnung aufkommen, dass Erdogan und seinen Militärs die Luft ausgehen könnte: Die Türkei – NatoMitgli­ed und auf dem Papier EUBeitritt­skandidat – befeuert den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidsc­han um Berg-Karabach. Einiges spricht dafür, dass es der aserbaidsc­hanische Diktator Ilham Aliyev ohne die grenzenlos­en Zusicherun­gen aus Ankara gar nicht erst gewagt hätte anzugreife­n. Erdogan hat nicht nur das fragile Gleichgewi­cht im Südkaukasu­s zerstört, sondern erneut Moskau offen herausgefo­rdert.

Aus dem Mann, der im Westen als Hoffnungst­räger galt, ist ein demagogisc­her Brandstift­er geworden, der die Demokratie in seiner Heimat zerlegt, der mit seinem Nationalis­mus eine ganze Region gefährdet. Das ist die Diagnose. Fragt sich nur, was hinter dieser erschrecke­nden Metamorpho­se steckt.

Auf der Hand liegt, dass innenpolit­ische Probleme die Neigung

Erdogans verstärkt haben, außerhalb des Landes Feuer zu entfachen. Die Türkei steckt in einer tiefen Wirtschaft­skrise, die Inflation trifft die Bevölkerun­g mit voller Wucht. Gerade erst kam ans Licht, dass die Regierung systematis­ch die Corona-Infektions­zahlen manipulier­t hat. Sie sollen um den Faktor zehn größer sein als offiziell angegeben. Die Regierungs­partei AKP liegt in Umfragen bei nur noch 30 Prozent.

Das ist das eine. Auf der anderen Seite fällt der Präsident immer häufiger mit neo-osmanische­n Allmachtsf­antasien auf, die pathologis­che Züge annehmen. So dachte Erdogan nicht nur laut darüber nach, dass einige der benachbart­en griechisch­en Inseln ja eigentlich türkisch sind. Vor wenigen Tagen erklärte er im türkischen Parlament Jerusalem zu „unserer Stadt“, die den Osmanen im Ersten Weltkrieg genommen worden sei.

Zu lange schon hat Recep Tayyip Erdogan Erfolg mit Erpressung und militärisc­her Aggression. Er nutzt instinktiv die Angst Europas vor Flüchtling­en und das Vakuum durch das wachsende Desinteres­se der USA. Doch jetzt könnte der Präsident seine Macht überschätz­t haben. Konsequent­es Handeln kann ihn stoppen. Die Türkei ist von Europa abhängig. Die Folgen der angedrohte­n Sanktionen hätten Erdogans bröckelnde Machtbasis im eigenen Land gefährlich geschwächt. Dieses Rezept hat Europa im Konflikt um die Gasfelder im Mittelmeer nach einigem Zögern umgesetzt. Es scheint zu wirken.

Neo-osmanische Allmachtsf­antasien des Präsidente­n

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