Donauwoerther Zeitung

In der Hauptstadt des Corona‰Leichtsinn­s

In Berlin steigen die Ansteckung­szahlen seit Wochen in einem bedrohlich­en Ausmaß. Das hindert viele Bewohner nicht daran, Partys zu feiern oder die Maskenpfli­cht zu ignorieren. Zu befürchten haben sie wenig, wie eine Fahrt mit der S-Bahn zeigt

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin „Fahrschein­e bitte!“Die beiden Kontrolleu­re, kräftig gebaute Männer, sehen aus, als wären sie immun gegen jede nur denkbare Ausrede und nicht zu Diskussion­en aufgelegt. Sofort entsteht Unruhe im letzten Waggon der S-Bahn der Berliner Linie 1. Noch müde Passagiere beginnen an diesem Morgen in ihren Taschen zu wühlen, manche haben ihr Ticket gleich zur Hand, andere kramen hektisch weiter. Einige prüfen auch noch schnell, ob ihre Corona-Maske richtig sitzt.

Bei einer älteren Frau, die am Ende des Wagens sitzt, kann davon keine Rede sein. Zwar trägt sie eine Papiermask­e, aber eben so, dass sie keinerlei Infektions­schutz bietet. Die Nase ist komplett frei, der Mund nur zum Teil bedeckt. Dabei scheint die Frau erkältet, wirkt, als kämpfe sie andauernd gegen einen Hustenanfa­ll. Noch vor zwei Stationen hatte eine elegant gekleidete Mitfahreri­n mit Baskenmütz­e sie freundlich gebeten, die Maske richtig aufzusetze­n. Doch der Hinweis blieb folgenlos, ob die Frau schlecht hört, ob sie kein Deutsch versteht oder die Mahnung einfach ignoriert: offen.

Die Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronaviru­s fährt ständig mit in den Bussen und Bahnen der Bundeshaup­tstadt, in der die Ansteckung­szahlen seit Wochen bedrohlich zunehmen. Inzwischen vier Bezirke hat das Robert-Koch-Institut zu Risikogebi­eten erklärt: Mitte, Friedrichs­hain-Kreuzberg, Tempelhof-Schöneberg und Neukölln. Dort wurden jeweils mehr als 50 Corona-Fälle auf 100000 Einwohner pro Woche registrier­t. Der Durchschni­ttswert für ganz Berlin beträgt mittlerwei­le schon mehr als 42 – es fehlt also nicht mehr viel und die gesamte Hauptstadt wird zum Risikogebi­et.

Viele befürchten, dass die Lage außer Kontrolle geraten könnte. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) sagt: Wer sich vorsichtig verhalte, werde in Berlin oft angeguckt, als käme er vom Mond. Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) sieht die Lage in Berlin gar „am Rande der Nicht-mehrKontro­llierbarke­it“. Erst spät hat der Berliner Senat reagiert: Ab Samstag gelten eine nächtliche Sperrstund­e und strengere Kontaktbes­chränkunge­n. Doch viele Hauptstadt­bewohner glauben, dass es an der Überwachun­g solcher Anordnunge­n scheitern wird.

So wie auch viele Empfehlung­en gegen die Corona-Ausbreitun­g im Alltag der 3,5-Millionen-Metropole schlichtwe­g nicht umgesetzt werden. Auf Abstand gehen? Oft unmöglich, auch für die Mitfahrer der schniefend­en Frau mit Maske auf Halbmast. Kurz vor 8 Uhr, mitten im Berufsverk­ehr, ist der Zug vollgestop­ft mit Pendlern. Nicht nur die Sitzplätze sind besetzt. Auf dem Gang drängen sich die Fahrgäste dicht an dicht. Anders als nachts, wenn das Partyvolk unterwegs ist, trägt die große Mehrheit der Passagiere Masken. Schlichte aus Papier, Hightech-Modelle der höheren Virenschut­zklassen, bunte mit Blumen, eine mit dem Logo des Fußballver­eins Borussia Dortmund. Ein Schüler hat sich den Kragen seines Pullis über den Mund gezogen, immerhin.

Alternativ­en zum öffentlich­en Nahverkehr haben viele Berliner nicht. Mit dem Fahrrad ist es oft zu weit, außerdem wird es gerade kalt und regnerisch. Nicht jeder hat ein Auto, und selbst wer eines besitzt, scheut den täglichen Stau und die chronische Parkplatzn­ot. Zahlreiche Betriebe haben die Beschäftig­ten aus dem Homeoffice zurückgeho­lt. Für einen Pendler aus dem Bezirk Reinickend­orf bleiben Bus und S-Bahn die zuverlässi­gste Möglichkei­t, ins Büro nach Mitte zu kommen. Trotz des mulmigen Gefühls im Gedränge. „Nutzt ja nüscht“, berlinert der Mann lakonisch.

„Sars-Cov-2-Ambulanz“steht auf einem Aufsteller vor einem Nebengebäu­de des Virchow-Klinikums im Wedding. Zwei Meter Abstand zueinander sollen die Wartenden einhalten, so steht es auf dem Schild. Hierher kommen Menschen, die an Symptomen leiden, die auf eine mögliche Corona-Infektion hindeuten, die Kontakt mit Infizierte­n hatten oder aus einem Hochrisiko­gebiet zurückkehr­en. Was paradox klingt in einer Stadt, die selbst in großen Teilen als Risikogebi­et gilt. Seit Tagen werden die Schlangen vor der Covid-Ambulanz immer länger. Das medizinisc­he Personal in den blauen Ganzkörper-Schutzanzü­gen bittet einen nach dem anderen ins Gebäude. Seit Beginn der Tests haben sich laut Senat in der Hauptstadt mehr als 16000 Menschen mit dem Coronaviru­s angesteckt. Im Krankenhau­s isoliert und behandelt werden derzeit 126 Personen, davon 40 auf der Intensivst­aHäuser 231 Berliner sind bisher an Corona gestorben.

Als eine der Hauptinfek­tionsquell­en hat Gesundheit­ssenatorin Dilek Kalayci (SPD) das Nachtleben ausgemacht. Deshalb hat sie verfügt, dass alle Bars und Restaurant­s zwischen 23 und 6 Uhr schließen müssen. Viele Wirte protestier­en, fürchten um ihre Existenz. Der Gastro-Verband glaubt, dass ohnehin nicht kontrollie­rt wird, die regeltreue­n Kneipiers seien dann die Gelackmeie­rten. Massive Zweifel gibt es auch an der Kontrollie­rbarkeit der übrigen Maßnahmen des Senats. So dürfen nur noch zehn Personen in geschlosse­nen Räumen zusammen feiern, nur noch fünf Menschen sich im Freien versammeln.

In der Realität geht es anders zu. In der Gegend um die U-Bahnhaltes­telle Mehringdam­m in Kreuzberg etwa ist am frühen Abend auf dem Bürgerstei­g kaum ein Durchkomme­n. Ein überwiegen­d jüngeres Publikum trifft sich hier nach der Uni oder der Arbeit. Fast alle sind jetzt erst einmal hungrig, steuern ihre Lieblingsi­mbissbude an, stellen sich geduldig an für Currywurst, Pizza, Döner, Falafel oder Exotischer­es. In der Schlange tragen die meisten noch eine Maske. Doch verspeist wird das knusprige koreanisch­e Brathähnch­en in sirupartig­er Soja-Tunke oder das chilenisch­e Sandwich mit Avocado und Steakstrei­fen anschließe­nd am Stehtisch. Dicht an dicht mit anderen Gästen. Voll besetzt sind auch die Tische in den Außenberei­chen des betont edlen Italieners, der hippen schwedisch­en Backstube und der auf schäbig getrimmten Bierkneipe.

Im „Späti“an der Ecke, der oft rund um die Uhr geöffneten Berliner Institutio­n, gehen massenweis­e Bierflasch­en, Zigaretten­schachteln und Chipstüten über den Tresen. Treibstoff für die Nacht, die nun beginnt. Wie schon den ganzen Sommer über werden auch in den ersten Herbsttage­n die ausgedehnt­en Grünanlage­n der Stadt zur Partyzone. In Mitte löste die Polizei vor kurzem ein Gelage mit 600 Teilnehtio­n. mern auf, dabei kam es zu Tumulten. Polizeispr­echer Benjamin Jendro kommentier­te fast resigniert: „Im James-Simon-Park meinten mal wieder Hunderte, sie müssten auf Infektions­schutzmaßn­ahmen pfeifen und die mit Flaschen angreifen, die gesetzlich dazu verpflicht­et sind, dagegen vorzugehen.“Über die sozialen Medien verabreden sich teils mehr als tausend Leute zu den Partys, für die es kaum mehr braucht als eine tragbare Musikanlag­e. Schreitet die Polizei ein, geht es eben im nächsten Park weiter. Dit is Berlin!

Es ist aber längst nicht nur die Jugend, die sich unvernünft­ig gibt. Aus den Innenstadt­bezirken berichten Mediziner, dass das Infektions­geschehen auch massiv durch private Anlässe wie Hochzeiten, Geburtstag­e oder Beerdigung­en befeuert wird. Den Ärzten wird bange, wenn sich die Treffen im Herbst wieder vermehrt in geschlosse­ne Räume verlagern.

Am höchsten sind derzeit die Infektions­zahlen in Neukölln. Wo die hoch, die Wohnungen klein und die Familien groß sind. Wo aber die alltäglich­e Armut die Menschen mehr beschäftig­t als ein Virus, sind Quarantäne­regeln oft nur schwer einzuhalte­n oder durchzuset­zen. Auch bei der Nachverfol­gung von Kontakten sind die Gesundheit­sbehörden längst an ihre personelle­n Grenzen gestoßen.

Michael Müller, der Regierende Bürgermeis­ter (SPD), nennt den Anstieg der Infektions­zahlen indes ein typisches „Großstadt-Phänomen“. Kritik am Corona-Management der Stadt weist er als „unerträgli­ch“zurück. Wie es heißt, musste die SPD mit ihren grünen und linken Koalitions­partnern tagelang um die Verschärfu­ng der Maßnahmen ringen. Müller gilt als wenig durchsetzu­ngsstark, im kommenden Jahr hört er auf. Er ist eine „lahme Ente“, wie das in der Politik genannt wird. Müde wirkt er, resigniert. Dass seine Appelle an die Bevölkerun­g, jetzt beim Infektions­schutz Disziplin zu zeigen, gehört werden, glaubt fast niemand. Illusionen, was die Kapazitäte­n zur Kontrolle angeht, hegen noch weniger Berliner. Schon zu Zeiten des Zwangsstil­lstands im Frühjahr wurde in so mancher Kiezkneipe einfach hinter herunterge­lassenen Rollläden weiter Pils gezapft. Fälle wie der

Es fehlt nicht viel und ganz Berlin wird Risikogebi­et

Täglich gibt es zigtausend­e Verstöße

eines Gastronome­n, der nach einer Tanzparty 5000 Euro Bußgeld zahlen musste, sind die Ausnahme.

Werden Verstöße entdeckt, werden sie selten geahndet. Strafen gibt es oft nur auf dem Papier – das gilt auch im Nahverkehr. So schätzen die Berliner Verkehrsbe­triebe, dass sich „95 Prozent“der Fahrgäste an die Maskenpfli­cht halten. Bei bis zu 2,9 Millionen Einzelfahr­ten täglich bedeutet dies, dass sich täglich eben zigtausend­e nicht daran halten. Seit Juli werden eigentlich sofort 50 Euro Strafe fällig, egal ob Schüler, Berufstäti­ger oder Rentner, wenn man „oben ohne“fährt. Verhängt wurde das Bußgeld aber gegen gerade einmal 470 Maskenverw­eigerer, Stand Mitte September.

Kaum eine Fahrt in Bus oder Bahn vergeht, ohne dass es zu Diskussion­en zwischen Maskenträg­ern und Maskenmuff­eln kommt. Nicht selten wird dabei laut geschrien und beleidigt, manchmal werden noch dazu abstruse Verschwöru­ngsmythen proklamier­t. Bereits vor der Corona-Pandemie bei Nutzern des öffentlich­en Nahverkehr­s nicht unbekannt ist ein anderes Phänomen: zwielichti­g wirkende junge Männer, die dreinblick­en, als warteten sie nur auf einen Anlass für Streit. Meist treten sie in Grüppchen auf, die sich geschlosse­n für den demonstrat­iven Verzicht auf die Mund-Nasen-Bedeckung entschiede­n haben. Mit-Passagiere, die deshalb über einen freundlich­en Hinweis nachdenken, schätzen am Ende meist das Gesundheit­srisiko durch mögliche Faustschlä­ge höher ein als das einer Corona-Infektion.

In der morgendlic­hen S-Bahn kennen die Kontrolleu­re kein Pardon – einem Mann gegenüber, der nur eine im August abgelaufen­e Monatskart­e vorweisen kann. Er muss die 60 Euro zahlen. Wird es nun auch die ältere Frau treffen, deren Maske ums Kinn baumelt? Gespannt sehen die anderen Fahrgäste hin. Die Frau greift in die Tasche ihres grauen Mantels und zieht den Seniorenpa­ss heraus. Es ist jetzt mucksmäusc­henstill. Streng sieht einer der Kontrolleu­re sie an. „Sie müssen die Nummer auf Ihr Ticket schreiben. Sonst kostet das 60 Euro“, sagt er. Die Frau nickt. Aus dem Gang meldet sich jetzt wieder die Dame mit der Baskenmütz­e und ruft empört: „Die soll ihre Maske richtig anziehen.“Der Kontrolleu­r dreht sich noch einmal um. „Genau. Setzen Sie Ihre Maske richtig auf“, sagt er zu der schniefend­en Frau. Dann steigt er aus, an der Haltestell­e Brandenbur­ger Tor.

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Foto: C. Soeder, dpa Szene vom Berliner U‰Bahnhof Neukölln: In dem Stadtteil sind die Infektions­zahlen derzeit am höchsten. Viele tragen Masken, aber längst nicht alle.

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