Donauwoerther Zeitung

Ein Schuh, der Geschichte schrieb

Nikita Chruschtsc­how prägte die Sowjetunio­n. Im Westen blieb er aber auch für einen Wutanfall in Erinnerung

- VON MICHAEL STIFTER

Augsburg Es ist einer dieser Momente, die Geschichte schrieben, obwohl heute keiner mehr so genau sagen kann, ob diese Geschichte auch stimmt. Die Hauptrolle spielen ein wütender Mann aus Moskau und ein brauner Lederschuh. Wobei, schon bei der Farbe der Fußbekleid­ung kommen erste Zweifel auf. Schließlic­h ist das einzige verifizier­te Bilddokume­nt, das es von der Szene vor 60 Jahren gibt, ein Schwarz-WeißFoto. Zu sehen sind darauf Nikita Chruschtsc­how – und ein Halbschuh auf einem Rednerpult. Der Legende nach soll der damalige Kreml-Chef selbigen Sekunden vorher drohend in die Luft gereckt und anschließe­nd, einigermaß­en ungehalten, damit auf die Tischplatt­e eingedrosc­hen haben. Einwandfre­i belegt ist zumindest, dass es in der Vollversam­mlung der Vereinten Nationen an jenem 12. Oktober 1960 hoch hergegange­n ist. Die Diskussion­en drehten sich um Machtanspr­üche in früheren Kolonien. Zahlreiche afrikanisc­he Staaten wurden zu dieser Zeit unabhängig. Unter anderem der Kongo, in dem sich prowestlic­he und prosowjeti­sche Kräfte unversöhnl­ich gegenübers­tanden.

Belegt ist auch, dass Nikita Sergejewit­sch Chruschtsc­how ein Mann mit einer ziemlich kurzen Zündschnur war, der zur drastische­n Ausdrucksw­eise neigte. Im Westen nahm man den Sohn eines Bauern, der nach der brutalen Schreckens­herrschaft Stalins „Tauwetter“versproche­n hatte, deshalb nicht immer ganz ernst. Auch die berühmte Schuh-Szene dürfte dabei eine Rolle gespielt haben.

Dabei stand Chruschtsc­how an der Spitze eines Landes, das zwei Jahre später Atomrakete­n auf Kuba stationier­te und die Welt damit an den Rand eines dritten Weltkriegs führte. Am Ende war es aber eben auch er, der einlenkte und in Geheimgesp­rächen mit US-Präsident John F. Kennedy die atomare Katastroph­e im letzten Moment abwendete.

1964 wurde Chruschtsc­how entmachtet und lebte bis zu seinem Tod 1971 auf einer Datscha in der Nähe von Moskau. In Russland verbindet man mit ihm bis heute die Abkehr von Diktator Josef Stalin, dem er vorwarf, brutal seine Macht missbrauch­t zu haben. Für den Rest der Welt wird Chruschtsc­how aber für immer (auch) der Mann mit dem Schuh bleiben.

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Foto: dpa Vor 60 Jahren: Nikita Chruschtsc­how und der Schuh auf dem Pult.

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