Donauwoerther Zeitung

Der beste deutschspr­achige Roman des Jahres?

Vielleicht die Favoritin auf den Deutschen Buchpreis: Christine Wunnickes „Die Dame mit der bemalten Hand“ist so souverän wie klug. Das kann sonst nur ein großer, reich prämierter Kollege

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Allzu oft geht es darum, „das Buch der Stunde“zu küren, weil es wie gerufen scheint und meist politisch engagiert zum aktuellen Geschehen passt – weil es damit „gesellscha­ftlich relevant“ist. Wie es die Literatur ja auch als Ganzes sein soll …

Wenn die Wahl zum Deutschen Buchpreis 2020 an diesem Montagaben­d nach diesem Kriterium getroffen wird, dürfte Christine Wunnicke keine Chance haben. Dass nicht wenige Kritiker meinen, sie sei aber „dran“, vielleicht sogar so etwas wie eine Favoritin, nachdem sie es mit zwei ihrer vorherigen Romane in die Longlist geschafft hat, liegt am exakten Gegenteil: „Die Dame mit der bemalten Hand“ist ein im besten Sinne über die Gegenwart erhabenes Buch. Und sollten wir genau solche nicht viel öfter suchen? Es beweist jedenfalls die Richtigkei­t dessen, was Sigrid Löffler mal über die in München lebende Autorin gesagt hat: „Wunnicke ist eine große, unterschät­zte Romanautor­in.“

Und dabei ist es doch ein so kleines Büchlein, gerade mal 160 Seiten dünn. Aber die sind von einer so kunstvolle­n und klugen Souveränit­ät, zu der in deutscher Sprache und mit historisch­em Stoff ansonsten nur ein veritabler Star, der jedenfalls bereits reich prämierte Christoph Ransmayr, imstande ist – mit Klassikern wie „Letzte Welt“und zuletzt „Cox und Der Lauf der Zeit“. Lehrreiche Reisen durch Raum und Zeit.

Mit Christine Wunnicke führt diese gut 250 Jahre zurück – zu einem hinreißend­en Aufeinande­rtreffen.

Da ist der ambitionie­rte, aber auch ein bisschen schräge Mathematik­er Carsten Niebuhr, der tatsächlic­h einst „aus dem Bremischen“als Kartograf zum Forschungs­reisenden wurde mit dem abenteuerl­ichen Ziel Arabien – und nach dem Wüten der Malaria unter der Expedition­screw als einzig Überlebend­er, selbst bereits fiebernd, auf einer Insel nahe dem indischen Mumbai strandet.

Dort trifft er, wie der Zufall will, auf Meister Musa, einen Perser, der tatsächlic­h Meister ist, im Bauen von astronomis­chen Rechen- und Messinstru­menten nämlich, sogenannte­r Astrolabie­n, im Dienste des Fürsten von Jaipur – ebenfalls ein Sonderling, wenn auch von anderem Kaliber: in Reichtum und Könnerscha­ft zugleich eitel und läppisch geworden, so streng wie liebevoll zu seinem mitreisend­en jugendlich­en Diener, gelangweil­t von den mit dem Alter hohl werdenden Wiederholu­ngen des Lebens und deshalb umso neugierige­r beim Aufeinande­rtreffen mit dem befremdlic­hen Deutschen. Daran allein kann man viel Freude haben, weil die 54-jährige Christine Wunnicke in der perspektiv­isch wechselnde­n Schilderun­g dieser Charaktere und ihrer sprachlich­en Verständig­ung virtuos ist – Niebuhrs arabisches Radebreche­n versteht sie charmant ins Deutsche zu übertragen.

Von geradezu philosophi­scher Bedeutung wird diese Begegnung bei ihr durch den Kontrast des Begreifens der Welt. Beide sind Männer der Wissenscha­ft, sie haben also vermeintli­ch eine gemeinsame Basis. Aber um nur das titelgeben­de Beispiel zu zitieren: Niebuhr zeigt die Sterne, die nach westlichem Verständni­s das Bild der Kassiopeia formen. Meister Mussa seufzt: „So klein. Ihr seht das Weibsbild in den paar Sternen. Wir sehen dort nur die bemalte Hand.“Und dann zeigt Mussa ihren kompletten Körper am Himmel: Ellenbogen, Kopf… „Die Dame mit der bemalten Hand umspannt den halben Himmel.“Und nun sagt Niebuhr: „Wir glotzen in denselben Himmel und sehen verschiede­ne Bilder.“

So treffen hier kulturell bedingte Sichtweise­n immer wieder aufeinande­r – nicht selten mit dem Ergebnis, dass der harte Begriff der Wissenscha­ft in Abgrenzung zum Mythos (Niebuhr hasst alle Religion) beim Perser auf Erstaunen stößt. Was die Wahrheit über die Welt und den Menschen ausmacht, ist bei Meister Mussa von einem viel breiteren Verständni­s getragen. Was wiederum den Deutschen oft sagen lässt: „Ich kann dir nicht folgen“, was sich aber doch nach und nach in einem sich staunend weitenden Horizont zeigt. Als Niebuhr zum Schluss jedenfalls zurück in der Heimat ist – dem schwächste­n Teil des Buches, das man sonst ohne Weiteres gleich noch mal von vorn beginnen will – ist er ein anderer geworden …

Aber vielleicht hat uns ja Wunnicke was Wichtiges zum aktuellen politische­n Geschehen samt aufkeimend­er Nationalis­men zu erzählen. Also doch auch ein Buch der Stunde? Jedenfalls wäre es des Buchpreise­s sehr würdig.

» Christine Wunnicke:

Die Dame mit der bemalten Hand Berenberg, 168 Seiten, 22 Euro

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Foto: Privat, Kirchner Kommunikat­ion, Berenberg Verlag, dpa Wunnicke, Jahrgang 1966.

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