Donauwoerther Zeitung

Künftige Piloten sollen von der Schule fliegen

Wer es ins Cockpit einer Lufthansa-Maschine schafft, hat das große Los gezogen: krisensich­ere Stelle, Top-Bezahlung, hohes Ansehen. So war das bisher. Jetzt will der Konzern wegen der Corona-Krise seine Flugschüle­r loswerden. Die verstehen die Welt nicht

- VON JÜRGEN GERSTENMAI­ER UND ANDREAS FREI

Sein erstes Pixi-Buch hieß „Ich habe einen Freund, der ist Pilot“. Wenn er mit seinen Eltern in den Urlaub startete, war ihm das Ziel ziemlich egal, Hauptsache es wurde mit einem Flugzeug erreicht. In der Schule, im Gymnasium, wurde ihm von Jahr zu Jahr immer klarer, dass er nur einen Berufswuns­ch hatte: Pilot zu werden. Pilot bei der Lufthansa.

Davon träumen viele. Für den jungen Allgäuer sah lange alles danach aus, als würde aus diesem Traum auch Wirklichke­it werden. Nun, ganz knapp vor dem großen Ziel, scheint sich dieser Traum für ihn und hunderte weitere Frauen und Männer schneller aufzulösen als ein Kondensstr­eifen am Himmel.

Die Lufthansa ist in Existenzno­t geraten. Nur ein milliarden­schweres staatliche­s Rettungspa­ket hat eine Insolvenz verhindert. Rund 650 000 Kunden warten noch immer darauf, ihre stornierte­n Tickets erstattet zu bekommen. Der internatio­nale Luftverkeh­r hat sich vom coronabedi­ngten Zusammenbr­uch längst nicht erholt.

Das Unternehme­n will nun seine Flotte von 760 Flugzeugen deutlich verkleiner­n, um mindestens 100 Maschinen, wie es heißt. Bedeutet: Der Konzern benötigt weniger Piloten. Etwa 900 seien derzeit zu viel an Bord, sagte Vorstandsc­hef Carsten Spohr im Sommer. Ende September gipfelte das Drama in der Mitteilung, die Lufthansa und ihre Tochterges­ellschafte­n würden auf Jahre hinaus keinen Bedarf an neuen Piloten haben. Und: Die derzeit 700 Flugschüle­r sollten am besten ihre Ausbildung abbrechen.

700 junge Leute verstehen seitdem die Welt nicht mehr. War es denn nicht immer so: Wer es in die legendäre, 1956 gegründete Flugschule der Lufthansa nach Bremen und anschließe­nd ins Cockpit eines Verkehrsfl­ugzeugs schafft, hat das große Los gezogen – krisensich­ere Stelle, Top-Bezahlung, hohes Ansehen, gepaart mit einem ausgeprägt­en Korpsgeist unter den Kollegen. Konzernche­f Spohr wurde selbst in Bremen zum Piloten ausgebilde­t. Jetzt soll der komplette Nachwuchs mitten in der Ausbildung in die Wüste geschickt werden?

Der junge Mann aus dem Allgäu ist einer der Betroffene­n. Ein selbstbewu­sster Mensch, der für sich und seine Meinung eintritt. Doch die „Vereinigun­g Cockpit“, der Berufsverb­and der Piloten in Deutschlan­d, hat allen, denen es derzeit wie ihm ergeht, vorsorglic­h dazu geraten, nicht mit ihren richtigen Namen an die Öffentlich­keit zu gehen.

Die Sorge geht um, der Lufthansa einen Grund zu liefern, arbeitsrec­htlich gegen Leute vorzugehen, die sie ohnehin nicht mehr beschäftig­en will. Also erzählen wir die Geschichte des Beinahe-Piloten unter dem Namen Markus.

Markus kann sich nicht daran erinnern, dass er jemals etwas anderes als Pilot werden wollte. Nach dem Abitur fängt er mit dem Segelflieg­en an und bewirbt sich im Internet auf der Plattform der Lufthansa-Flugschule in Bremen, der „European Flight Academy“(EFA).

Die gilt weltweit als eine der ersten und besten Adressen, wenn es um die Ausbildung des PilotenNac­hwuchses geht – wenngleich sie Ende 2019 in die Schlagzeil­en geriet, als das Süddeutsch­e Zeitung Magazin von diskrimini­erenden und demütigend­en Aufnahmebr­äuchen berichtete. Die EFA, so heißt es in der Eigenwerbu­ng, sei der „beste Weg zum Pilotenber­uf“und stehe für „höchste Qualität“.

Das weiß auch Markus – und macht Luftsprüng­e, als er für ein erstes, eintägiges Auswahlver­fahren nach Hamburg eingeladen wird. Dort geht es um Dinge wie physikalis­ches Grundverst­ändnis, logisches Denken, ein Merktest muss absolviert werden. Nach gut zwei Wochen die Nachricht: Markus hat bestanden, er darf zur sogenannte­n Gruppenqua­lifikation für weitere zwei Tage wieder nach Hamburg kommen. Jetzt gilt es unter anderem, in Rollenspie­len und Streitgesp­rächen Stressresi­stenz und Multitaski­ng-Fähigkeite­n zu beweisen. Markus kommt durch.

Es folgt das, was keiner der Bewerber so richtig einschätze­n, worauf man sich auch mit Pauken nicht vorbereite­n kann: ein Interview mit einem Psychologe­n und einem Flugkapitä­n. Gleich nach dem Gespräch erfährt jeder, ob er bestanden hat oder nicht. Zu Markus sagen die beiden: „Glückwunsc­h, Sie haben es uns leicht gemacht.“Markus ruft sofort seine Eltern an, die mit ihm nach Hamburg gekommen sind, und hört am anderen Ende der Leitung deren Jubel – geschafft.

Los geht es dann nach einem gründliche­n medizinisc­hen Check Ende 2018. In Markus’ Gruppe sind insgesamt 28 Flugschüle­r. Er nimmt sich zusammen mit einem Mitschüler eine kleine Wohnung in Bremen. Für Freizeitak­tivitäten bleibt wenig Zeit. Gut ein Jahr wird Theorie gebüffelt, von Mathematik über Meteorolog­ie bis hin zu Grundlagen der Navigation.

Zwischendu­rch gilt es immer wieder Tests zu bestehen, dann gibt es die „ganz große Prüfung“, wie Markus das nennt, beim Luftfahrtb­undesamt. Drei Tage lang wird „alles abgefragt, was wir die letzten zwölf Monate gebüffelt haben“. Markus, der vor Prüfungen nervös ist, aber wenn es ernst wird, die Ruhe selbst, nimmt auch diese Hürde. Jetzt kann die Praxis kommen.

Markus fliegt in die USA, nach Arizona. Dort, in Goodyear, hat die Lufthansa einen eigenen Campus, 30 Propellerf­lieger „vom Feinsten“stehen den „Flight-Teams“aus jeweils vier Flugschüle­rn zur Verfügung. Markus ist in Amerika gelandet, weil er sich für den Kurs für die „Multicrew Pilot License“beworben hat. Die Ausbildung dort ist von

Anfang an auf das Fliegen in einem Zwei-Personen-Cockpit ausgericht­et – und führt in guten, also normalen Zeiten, in ein Cockpit der Kernmarke Lufthansa.

Daneben gibt es an der Bremer Flugschule noch die Kurse der „Airline Transport Pilot License“. Dabei liegt der Schwerpunk­t zunächst beim Fliegen in einem Ein-Personen-Cockpit, danach folgt ein Arbeitspla­tz in einer der anderen Konzernges­ellschafte­n, etwa bei Eurowings. Die Schulung findet nicht in Arizona, sondern auf Propellerm­aschinen in Rostock statt.

Markus ist seinem Ziel, Lufthansa-Pilot zu werden, so nahe wie nie zuvor. Insgesamt sind vier Monate für diesen Ausbildung­sabschnitt vorgesehen. Nach 15 Ausbildung­sflügen, die jeweils eineinhalb Stunden dauern, das erste Solo: Noch mit dem Fluglehrer an Bord muss Markus zu einem für ihn bis dahin unbekannte­n Flughafen fliegen, dann dort die ersten drei Flugplatzr­unden ganz allein im Cockpit drehen. „Irre“, erzählt Markus. Noch heute bekommt er eine Gänsehaut.

Dann, am 16. März, erreicht die Flugschüle­r mitten in der Nacht eine E-Mail. Wegen Corona und bevor alles dichtgemac­ht wird, müssen sie umgehend heimreisen, die Flugticket­s sind angehängt, die ersten

Rückflüge nach Deutschlan­d starten schon um sieben Uhr morgens. „Anfangs haben wir damit gerechnet, dass es in zwei, drei Monaten weitergehe­n wird“, sagt Markus. Zunächst kommt die Info, dass die Praxisausb­ildung bis 31. August ausgesetzt wird, dann Anfang August die Nachricht, dass sich bis Jahresende nichts mehr tun wird.

Markus und seine Mitschüler bewahren sich ihren Grundoptim­ismus. Bis zum 29. September, „unserem Albtraumta­g“.

An jenem Dienstag empfiehlt die Flugschule Bremen den 700 Schülern per Videokonfe­renz, ihre Ausbildung abzubreche­n. Sie würden, so die Begründung, über viele Jahre hinaus einfach nicht gebraucht. Die angebotene­n Alternativ­en, sagt Markus, empfinden sie als Wahl zwischen Pest und Cholera – was ein weiterer Schüler, der aus Bayern kommt, im Gespräch mit unserer Redaktion bestätigt.

Der Betreiber, das Lufthansa Aviation Training (LAT), lässt seine Schüler nämlich wissen: Wer seine Ausbildung beenden will, kann dies tun. Doch wer dann innerhalb von fünf Jahren keinen Job im Konzern gefunden hat, müsse die gesamten Ausbildung­skosten – für die die Lufthansa in Vorleistun­g gegangen ist – auf einen Schlag zurückzahl­en, statt sie später über viele Jahre hinweg vom Gehalt abgezogen zu bekommen. In Markus’ Fall sind das immerhin 80 000 Euro.

Wer dagegen aus den Ausbildung­sverträgen aussteige, könne dies kostenlos, sprich ohne finanziell­e Verpflicht­ungen tun, so das LAT. Und die etwa 170 jungen Frauen und Männer, die kurz vor der Abschlussp­rüfung stehen, werde man auch noch selbst ausbilden. Eigens dafür soll die Schule Anfang kommenden Jahres noch einmal geöffnet werden.

Wie es überhaupt mit der Einrichtun­g weitergeht, ist unklar. Die etwa 150 Beschäftig­ten befinden sich in Kurzarbeit. Die Schule hat noch einen zweiten Großkunden: die Bundeswehr. Sie lässt in Bremen Piloten für die zivile Flugbereit­schaft der Bundesregi­erung, für Transportf­lugzeuge wie den Airbus A400M, aber auch für das Steuern von Drohnen ausbilden. Zudem nutzt unter anderem die japanische All Nippon Airways (ANA) für ihre künftigen Piloten die Dienste der Flugschule.

Der Chef der Personalve­rtretung, Peter-Helmut Hahn, sagt: „Wir könnten überleben mit Bundeswehr und ANA.“Problem ist allerdings: Nicht nur die European Flight Academy der Lufthansa, sondern auch die Bundeswehr verhandelt über ein billigeres Ausbildung­smodell mit einem kleineren Flugzeug in RostockLaa­ge. Schon im November, so wird gemunkelt, könnte sich die Zukunft der Schule entscheide­n.

Und was wird aus den Flugschüle­rn? Für Markus kommt erschweren­d hinzu, dass er den ersten Block an praktische­r Flugausbil­dung noch nicht abgeschlos­sen hat. Ihm und seinen Mitschüler­n wird nun zweierlei angeboten: „Entweder freiwillig aufhören, dann müssen wir

Ein Flugschüle­r aus dem Allgäu packt aus

Er sagt: Freiwillig beerdige ich meinen Traum nicht

nichts zurückzahl­en“, sagt Markus. Oder man könne an einer externen Flugschule weitermach­en, womit man aber den Status eines Lufthansa-Flugschüle­rs verliere und später auch niemals wieder für den Konzern arbeiten dürfe. „Praktisch“, sagt Markus, „heißt das, dass wir eigentlich keine Chance mehr haben würden, jemals irgendwo einen Cockpit-Platz zu bekommen.“

In einem Cockpit ist Markus seit dem Rückruf aus Arizona im Frühjahr nicht mehr gesessen. Stattdesse­n jobbt er wieder in einer Firma, für die er schon früher als Schüler in den Ferien gearbeitet hat. Elektronik-Komponente­n überprüfen statt Hightech-Elektronik bedienen, Tag für Tag, Woche für Woche. Nicht übermäßig anspruchsv­oll, aber immerhin. „Ich bin dankbar, dass ich da wieder untergekom­men bin. In Zeiten von Corona war das nicht selbstvers­tändlich“, sagt er.

Seine Piloten-Ausbildung hinschmeiß­en – da ist sich Markus sicher – wird er nicht. Er hofft, dass sich Lufthansa-Chef Spohr noch umstimmen lässt. Der sei Anfang der 90er Jahre als Flugschüle­r in Bremen schließlic­h selbst von einer damals gerade noch verhindert­en Schließung bedroht gewesen.

Markus kann nun nichts anderes tun als warten. Warten und hoffen. „Freiwillig“, sagt er, „freiwillig werde ich meinen Traum nicht beerdigen.“

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Foto: Boris Roessler, dpa Kein Bedarf an neuen Piloten: Die Lufthansa will sich von mindestens 100 Flugzeugen trennen (hier ein Jet in Frankfurt) und auch von einem Großteil ihrer Flugschüle­r.
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Fotos: Ingo Wagner/Jan Woitas, dpa Die Flugschule der Lufthansa in Bremen. Wie es für die Einrichtun­g weitergeht, ist völlig unklar.
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War selbst Flugschüle­r in Bremen: Luft‰ hansa‰Vorstandsc­hef Carsten Spohr.

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