Donauwoerther Zeitung

„Mit Volldampf ins Unbekannte“

Als der Jazzpianis­t Michael Wollny sein neues Album „Mondenkind“aufnahm, erlebte er eine surreale Situation im April: Er schlief in einem leeren Hotel, fuhr über leere Autobahnen und traf niemanden im Studio

- Interview: Reinhard Köchl

Sie befinden sich gerade in Quarantäne. Hat es Sie jetzt auch erwischt?

Michael Wollny: Zum Glück nicht. Das, was mir gerade widerfährt, ist wohl die mildeste Form von Isolation, die es gibt. Ich bin gestern Nachmittag gelandet, wurde am Flughafen getestet und bin dann mit dem Auto direkt ins Hotel gebracht worden. Hier bleibe ich jetzt auf meinem Zimmer und warte auf eine SMS mit meinem Testergebn­is. Bis jetzt fühlt es sich wie ein ganz normaler Ferientag an: Ich habe lange geschlafen, liege in meinem Bett und lasse den Tag kommen. Aber irgendwann könnte schon die Zeit drängen. Ich bin ja nicht hierhergek­ommen, um Urlaub zu machen. Seit zwei Jahren bin ich etwa zwei bis drei Mal pro Jahr in Halden, um als „Artist in Residence“mit dem Norwegian Wind Ensemble, einem frei improvisie­renden klassische­n Orchester aus Blasinstru­menten, Programme zu erarbeiten.

Wie fühlt es sich an, allein zu sein?

Wollny: Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ist es durchaus angenehm. Ich kannte das Alleinsein bisher eigentlich nur als selbst gewählten Zustand: Ich schließe mich ins Studio ein, um zu spielen, oder in mein Zimmer, um zu lesen, ich unternehme einen Spaziergan­g. Nun liegt die Entscheidu­ng nicht mehr bei einem selbst.

Wie haben Sie es empfunden, als der Lockdown begann? Alles vollzieht von einem Tag auf den anderen eine Vollbremsu­ng, ihre Lehrtätigk­eit, die gemeinsame­n Proben, die Konzerte, Kitas, Gaststätte­n.

Wollny: Mein erster Eindruck war, dass dies eine Zäsur sein könnte, eine Entschleun­igung, die man sich insgeheim schon lange gewünscht hatte. Endlich dürfen wir mal durchatmen, trotz all der Angst vor dem Unbekannte­n Zeit mit der Familie verbringen. Aber leider wurde dieses Gefühl ziemlich schnell von einer realen existenzie­llen Bedrohung abgelöst, die jeder auf eine andere Weise verspürt hat und die bis heute andauert. Meine innere Balance finde ich normalerwe­ise zwischen zwei Wegen: Zum einen den des Nachdenken­s und Analysiere­ns, des Forschens und Verstehens, zum anderen den des Loslassens, des bewussten Kontrollve­rlustes, des Nicht-Bewertens, des Einfach-imMoment-Seins, was immer wieder auf der Bühne passiert. Seit einem halben Jahr gibt es das Letztere leider nicht mehr. Und vom Ersteren viel zu viel. Das ist nicht gut.

So etwas fördert Trübsinn und Melancholi­e.

Wollny: Genau! Jeder Mensch muss hin und wieder mal alles rauslassen.

Deswegen genieße ich ja auch meinen Job, weil ich dabei sowohl meinen Verstand wie auch meine Emotionen und mein Bauchgefüh­l relativ gleichbere­chtigt nebeneinan­derstellen kann. Für mich ist das ein absolutes Privileg.

Ihr neues Album „Mondenkind“ist mitten im April entstanden. Es war nicht nur eine Soloaufnah­me, sondern gleichzeit­ig ein durch und durch einsamer Akt.

Wollny: So etwas Surreales kennt man sonst nur aus Filmen. Wir wollten das Album in den Berliner Teldex-Studios aufnehmen. Zwei Tage habe ich dort verbracht, habe niemanden gesehen, der Toningenie­ur saß drei Räume weiter. Auf dem Weg zu den Aufnahmen bin ich über eine leere Autobahn gefahren, durch eine leere Stadt, am Abend lief ich zurück in mein menschenle­eres Hotel, es gab nicht nur keine weiteren Gäste, sondern auch kein Personal. In diesem Moment war ich absolut allein mit mir, der Musik und meinen Gedanken. Eines kann ich sicher sagen: Die Aufnahmen hätten im Januar oder im Mai definitiv anders geklungen.

Was kam Ihnen dabei in den Sinn?

Wollny: Welche Menschen ich kenne, die gezwungen sind, ihren Weg allein zu gehen. Als Erstes fiel mir der

Astronaut Michael Collins ein, der mit Apollo 11 den Mond umkreiste, während Neil Armstrong und Edwin „Buzz“Aldrin ihn als erste Menschen betraten. Mich hat interessie­rt, wie lange er dabei vom Blick- und Funkkontak­t mit der Erde ausgeschlo­ssen war. Der längste Blindflug dauerte 46:38 Minuten, es war die 13. Umrundung. Als ich später die Reihenfolg­e der Stücke festlegte, fiel mir auf, dass meine Auswahl knapp unter 47 Minuten lag. Wir haben noch sechs Sekunden rausgenomm­en, sodass wir ebenfalls auf 46:38 Minuten Spielzeit kamen. Das fand ich irgendwie passend.

Sie fühlten sich Michael Collins in diesem Moment sehr nah.

Wollny: Irgendwann schon. Der große Aufnahmera­um des Studios war wie eine Kapsel, in der ich ganz auf mich zurückgewo­rfen wurde, mit der Außenwelt nur durch ein Signal verbunden, das von mir nach draußen geht, ohne zu wissen, ob es überhaupt ankommt. Das ist ein sehr intensiver, intimer Moment, der mich mit den Menschen verbindet, die das irgendwann mal zu hören bekommen. Collins wurde ja in der Berichters­tattung als „einsamster Mensch aller Zeiten“stilisiert. Für mich ist er ein gutes Beispiel für einen radikalen Solisten.

Spätestens jetzt gehören Sie wohl ebenfalls zu dieser Spezies. Welche radikalen Solisten fallen ihn noch ein?

Wollny: Auf Anhieb der Tenorsaxof­onist Heinz Sauer. Mit ihm habe ich die Ehre, immer wieder Duokonzert­e spielen und Alben aufnehmen zu dürfen. Dann wäre da noch Joachim Kühn, der Pianist. In ihrer Art, wie beide spielen, dieser Radikalitä­t des Anderssein­s, sind sie einzigarti­g. Viele der großen Regisseure wie David Lynch, Stanley Kubrik, David Cronenberg oder Akira Kurosawa beziehen ästhetisch radikale Positionen, alles gewisserma­ßen Solisten in ihrem Universum. Sie sind wie eine Eisenbahn, die mit Volldampf ins Unbekannte fährt und die sich Meter für Meter noch selbst die Gleise legen muss.

Dennoch bleibt die Spielsitua­tion bei „Mondenkind“ein Dialog. In erster Linie mit der Musik, in zweiter Linie auch mit Ihnen selbst. Dafür wählen sie eher einen klassische­n Ansatz. Warum?

Wollny: Das Thema „Piano Solo“besitzt klanglich, spielerisc­h und erzähleris­ch eine ungeheure Bandbreite. Genau diese Herangehen­sweise entspricht meinem Selbstvers­tändnis als Pianist am meisten. Im Mittelpunk­t der Aufnahme sollte der volle, dynamische, lebendige Raumklang eines großen Konzertflü­gels stehen. Keine Studiotüft­elei, keine Effekte. Die Mikrofone standen ziemlich nah am Instrument, sodass ein ziemlich lebendiger Sound entstand, ähnlich wie bei Konzerten. Ich habe neue Songs geschriebe­n, freie Interludie­n, mich aber auch wieder an Titel von früher herangewag­t, die ich noch nie allein spielen konnte.

Sind Sie das Mondenkind?

Wollny: Ich sehe das Album nicht als Selbstport­rät, sondern als Momentaufn­ahme. Der Name „Mondenkind“stammt aus der „Unendliche­n Geschichte“von Michael Ende. Darin ist der Protagonis­t völlig allein auf sich gestellt und gibt seiner Welt einen neuen Namen. Damit belebt er sie aufs Neue. Vor dieser Aufgabe steht jeder Musiker, wenn er sich mit einem neuen Album auseinande­rsetzt.

Michael Wollny, 42, stammt aus Schweinfur­t, studierte in Würzburg und erregte ab Mitte der 2000er Jah‰ re immer mehr Aufmerksam­keit. Sein erstes und hochgelobt­es Soloal‰ bum „Hexentanz“erschien 2007. Zuletzt erschien sein neues Soloal‰ bum „Mondenkind“, das Wollny während des Lockdowns in Berlin aufgenomme­n hat. Der Pianist lebt mit seiner Familie in Leipzig.

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Foto: Jörg Steinmetz Michael Wollny, 42, ist als Jazzpianis­t eine Ausnahmeer­scheinung.

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