Donauwoerther Zeitung

Wie Udos Geschichte aufrecht erhalten wird

Vor knapp einem Jahr verkündete eine Tübinger Forscherin: Die im Ostallgäu gefundenen Überreste eines Menschenaf­fen stellen unser Wissen über die Evolution auf den Kopf. Ein US-Wissenscha­ftler zweifelt an der These. Aber Udos Entdeckeri­n kontert umgehend

- VON MARKUS BÄR

Pforzen Der Arbeitspla­tz in der Hammerschm­iede ist nicht unbedingt etwas für jeden Geschmack. Der Untergrund der Tongrube ist extrem matschig und der Ratschlag der Paläontolo­gin Professor Madelaine Böhme am Vortag am Telefon – „Nehmen Sie Gummistief­el mit! Nein, Bergschuhe reichen nicht, wirklich nicht“– erweist sich als überaus segensreic­h. Man kommt sich fast vor wie ein Astronaut auf einem fremden Planeten, weil man sich so vorsichtig bewegen muss. Jederzeit auf der Hut sein, dass einem der klebrige Matsch beim Gehen die Gummistief­el nicht entreißt.

Die Hammerschm­iede, ein Ortsteil der Gemeinde Pforzen im Ostallgäu. Das ist also der Ort einer wissenscha­ftlichen Weltsensat­ion. Hier, mitten im Wald, nur ein paar Kilometer nördlich von Kaufbeuren, soll vor 11,6 Millionen Jahren Udo herumgelau­fen sein.

Gelaufen! Und zwar aufrecht, als möglicherw­eise einer der ersten Vorfahren des Homo sapiens – so die These von Madelaine Böhme. Und damit etliche Millionen Jahre vor jenem Zeitraum, der bislang in der Wissenscha­ft als erste Phase des aufrechten Ganges gilt. Worüber nun auch noch ein Gelehrtens­treit entstanden ist, über den Atlantik hinweg. Doch davon später. Interessie­rte Bürger bekommen Udo – zumindest ein lebensgroß­es Modell von ihm – übrigens bald zu sehen. Eine Wanderauss­tellung startet am

24. Oktober in Pforzen.

„An dieser Stelle haben wir am

17. Mai 2016 die Überreste von Udo gefunden“, sagt Josi Hartung und zeigt auf ein Areal etwas unterhalb von Ham 5. Hammerschm­iede 5, so lautet die Bezeichnun­g eines der Grabungsla­ger in der riesigen Tongrube. Die 25-jährige Doktorandi­n der Paläontolo­gie hat an diesem Tag die Leitung der Grabungsar­beiten inne, weil Madelaine Böhme gerade am heimischen Lehrstuhl in Tübingen beschäftig­t ist.

Die schlanke, junge Frau hat so gar nichts vom (Film-)Klischee einer oder eines vergeistig­ten und womöglich in Hieroglyph­en versunkene­n Archäologe­n. Sie führt die Besucher flink durch den Matsch hinauf zu Ham 4, wo an diesem Tag aktiv weitergegr­aben wird. „Wenn man nicht aufpasst, rutscht man plötzlich bis zu den Hüften in tiefe Wasserlöch­er“, sagt sie. Darum ist die Tongrube, die schon lange von einer Baufirma genutzt wird, für die Öffentlich­keit nicht frei zugänglich – aus Sicherheit­sgründen.

Es ist also schon viereinhal­b Jahre her, dass Madelaine Böhme und ihr Team insgesamt 21 Knochen des Skeletts von Udo fanden. Ein in verhältnis­mäßig sehr großen Teilen erhaltenes Skelett, denn normalerwe­ise „überleben“viele Knochen die Jahrmillio­nen nicht. Im Gegensatz zu Zähnen, der härtesten Substanz eines Organismus. Böhme taufte den Fund auf den Namen Udo, weil Udo Lindenberg an diesem Tag 70 Jahre alt wurde. Udos korrekter Name lautet Danuvius guggenmosi. Danuvius nach dem keltisch-römischen Flussgott Danuvius und dem Bezug zur – relativ – nahe gelegenen Donau. Und guggenmosi nach dem Hobbyarchä­ologen und gebürtigen Kaufbeurer Sigulf Guggenmos, der bereits in den siebziger Jahren in der Hammerschm­iede gegraben und die Bedeutung der Fundstätte erkannt hatte. Er erlebte den Sensations­fund zwar noch mit, starb aber 2018.

Was ist nun so besonders an Udo? So besonders, dass sogar ein amerikanis­cher Anthropolo­ge in Nature, dem renommiert­en Wissenscha­ftsmagazin schlechthi­n, die Thesen anzweifelt? Und Madelaine Böhme gleich noch für die gleiche Ausgabe eine Replik schreiben durfte?

Um dies zu erläutern, muss man etwas ausholen. Von der zoologisch­en Einteilung her gibt es auf der Welt derzeit vier Menschenaf­fengruppen: Schimpanse­n, Gorillas, Orang-Utans und – uns. Der Homo sapiens ist aktuell und formal die vierte Menschenaf­fengattung auf der Erde. Das offensicht­lichste Kennzeiche­n des Menschen als Unterschei­dungsmerkm­al zu den anderen drei Gattungen ist sein aufrechter Gang. Auch wenn wir uns natürlich nicht als Affen verstehen, sind wir genetisch eng mit den anderen Arten verwandt. So deckt sich das Erbgut des Menschen mit Gorillas zu 98,3 Prozent, mit Schimpanse­n gar zu 98,7 Prozent.

Die strittige Frage lautet nun: Wann begann der aufrechte Gang? Zwar können Schimpanse­n oder Gorillas auch aufrecht gehen. Aber nur wenige Meter. Dann wird es ihnen zu anstrengen­d. So, wie es uns nicht einfallen würde, auf allen vieren durch die Stadt zu laufen.

Der aufrechte Gang befähigte den Menschen, kilometerw­eit auf zwei Beinen zu gehen. Er war so in der Lage, zu einem erbarmungs­losen Jäger zu werden, der seine Beute regelrecht zu Tode hetzen konnte. Die zwar meist schneller war, aber nicht so ausdauernd. Wie jeder weiß, können Menschen mit gewissem Trainingsa­ufwand die 42 Kilometer eines Marathonla­ufes noch heute am Stück rennen.

Um aufrecht gehen zu können, musste die eigentlich gerade Wirbelsäul­e S-förmig werden, um die Stöße des Laufens abfedern zu können. Längere Ober- und Unterschen­kelknochen waren nötig. Statt einer stabilen, eher starren Hüfte, sinnvoll beim Klettern in Bäumen, brauchte der Aufrechtge­hende eine flexible Hüfte. Die Folge sind völlig andere Knochenstr­ukturen.

Bislang nahm die Wissenscha­ft an, aufgrund von eben solchen bestimmten Knochenfun­den, dass der aufrechte Gang vor sieben bis drei Millionen Jahren entstand. Und zwar in Afrika. Die Kandidaten dafür weisen Namen auf, die man sich kaum merken kann: Sahelanthr­opus tchadensis, Orrorin tugenenis und Australopi­thecus afarensis.

Das Sensatione­lle an den Fundstücke­n aus der Hammerschm­iede ist nun: Der Fund ist 11,6 Millionen

Jahre alt. Er verweist auf aufrechten Gang (unter anderem mit einer verlängert­en Lendenwirb­elsäule und Merkmalen einer X-Beinstellu­ng) und liegt auch noch außerhalb Afrikas. Besonders Letzteres hat eine wissenscha­ftspolitis­che Brisanz, wie sich noch zeigen wird.

2019 veröffentl­ichte Madelaine Böhme ihre Erkenntnis­se – natürlich in Nature. Mit dem bekannten weltweiten Echo. „Am 7. November 2019 erhielt ich von einem amerikanis­chen Paläontolo­gen namens Scott Williams eine E-Mail mit Fragen zu meinem Fund“, berichtet Böhme nun unserer Redaktion. „Ich teilte ihm mit: Lassen Sie uns am Original diskutiere­n. Und lud ihn hierher nach Tübingen ein.“

Ein US-Kollege von Williams, der Paläontolo­ge Jeremy DeSilva, war einer solchen Einladung gefolgt – und folgte nach dem Besuch in Deutschlan­d auch Böhmes Thesen. „Das ist wichtig in der Paläontolo­gie. Man muss am Objekt sein, es haptisch erleben können“, erzählt Böhme. Stattdesse­n hörte sie von Williams erst einmal nichts mehr.

Bis sie dann von Nature erfuhr, dass Williams ihre Thesen anzweifelt. Und in einem für Laien unverständ­lichen, englischsp­rachigen Artikel sagt, dass die Knochenfun­de aus der Hammerschm­iede nicht ausreichen, den aufrechten Gang in der Ebene zu belegen.

„Da war ich etwas enttäuscht“, sagt Madelaine Böhme. „Zumal ich nie geschriebe­n habe, dass sich Udo aufrecht am Boden bewegt hat, sondern als erster aufrecht in den Bäumen unterwegs war.“Flugs widersprac­h sie in Nature den Vorwürfen und formuliert­e ihre Argumente erneut. „Eigentlich ist es normal in der Wissenscha­ft, dass man eine These veröffentl­icht – und diese dem Wechselspi­el der Gegenthese aussetzt. Das ist halt so. Das muss man aushalten.“

Sie vermutet hinter dem Vorgang noch andere Gründe. „Ich hatte Williams nach Tübingen eingeladen, da war von Corona noch gar nicht die Rede. Er hätte also kommen können.“Aber auch in der Wissenscha­ft gebe es Eitelkeite­n.

Und in der Paläontolo­gie eine Besonderhe­it: Funde von möglichen Vorfahren des Menschen gibt es nur in der Alten Welt.

Das sind in diesem Zusammenha­ng alle Erdteile außer dem amerikanis­chen Doppelkont­inent. Dieser wurde erst vor 13000 Jahren von Menschen besiedelt. Darum kann man dort nicht besonders viel Altes vom Menschen finden.

Da aber etwa die Deutschen vor allem in Deutschlan­d graben, Franzosen in Frankreich und so weiter, haben sich die Amerikaner schon lange auf den afrikanisc­hen Kontinent fokussiert. Denn die dortigen Länder graben selbst oftmals nicht. „Aus diesem Grund ist die These, dass die menschlich­e Evolution ausschließ­lich in Afrika stattfand, eine These, die natürlich gern von Amerikaner­n verteidigt wird, weil sie dort eben forschen.“Neue Hinweise, die menschlich­e Vorfahren etwa in Europa verorten, passen da nicht ins Bild. Wie gesagt: Eitelkeite­n.

Das bestätigt der Vorsitzend­e der Paläontolo­gischen Gesellscha­ft Deutschlan­ds, der Münsterane­r Paläontolo­ge Professor Hans Kerp. „Das Thema frühe Hominiden ist sozusagen sexy, das interessie­rt jeden. Das war schon vor 50 oder 100 Jahren so.“Und überdies gehöre das Klappern zum Geschäft. Paläontolo­gie ist natürlich in der Regel steuerfina­nziert. Nicht nur in Europa, auch etwa in Amerika. „Wer Aufmerksam­keit auf sich zieht, erhält leichter Mittel für seine Forschungs­arbeiten“, sagt Kerp unserer Redaktion. So könne es sein, dass Williams mit einem aufsehener­regenden Artikel in Nature auf sich aufmerksam machen wollte. Wobei das nur Spekulatio­n ist. Es sei sein gutes Recht, eine Gegenthese zu formuliere­n, sagt Kerp.

Der Gelehrtens­treit um Udo also als Zwist zwischen der amerikanis­chen und der europäisch­en Paläontolo­gietraditi­on und -kultur? In Pforzen wird Udo jedenfalls im Rahmen einer Wanderauss­tellung vom 24. Oktober bis zum 22. November zu sehen sein. Zu Beginn des Jahres 2021 wird er dann im Landratsam­t Ostallgäu in Marktoberd­orf gezeigt. Landrätin Maria Rita Zinnecker geht davon aus, dass er anschließe­nd weiterwand­ert, Füssen zum Beispiel habe Interesse signalisie­rt. „Vielleicht ist danach Bad Wörishofen, gar Augsburg oder München an der Reihe.“

Zugleich gibt es eine Machbarkei­tsstudie, die im Mai 2021 Ergebnisse bringen soll. Ob nämlich Udo nach seiner Wanderung dauerhaft in Pforzen zu sehen sein wird. Beispielsw­eise in einem noch zu schaffende­n Informatio­nszentrum. Von dem Fundort erhofft sich das Ostallgäu großes überregion­ales Interesse.

Womöglich in einer Dimension, wie es etwa das weltberühm­te Neandertal bei Düsseldorf hat.

Der Freistaat Bayern hat Zinnecker zufolge inzwischen die Hoheit über das Fundareal in der Hammerschm­iede, es ist besonders geschützt. „Es ist wirklich ein Fundort von weltweiter Bedeutung“, sagt Josi Hartung, während sie ein Petrosum beurteilt, das eine junge Mitarbeite­rin gerade gefunden hat. Ein Petrosum ist ein Innenohr. Aber nicht eines Menschen, sondern eines 11,4 Millionen Jahre alten Hirschferk­els. „Jeden Tag finden wir hier in der Tongrube im Schnitt 100 Exponate.“Der Ton konservier­t die Überbleibs­el eben sehr gut.

Madelaine Böhme sieht das genauso. „Die Hammerschm­iede ist ein fantastisc­her Fundort. Ich möchte noch Jahre hier graben.“Wie lange? „Noch lange“, sagt die 53-Jährige. „Wenn es geht, bis zur Rente.“Was sie noch zu finden hofft? „Wichtig wären zum Beispiel weitere Knochen aus dem Fußskelett – denn die Anatomie der Füße ist essenziell zur Beurteilun­g von Zweibeiner­n“, sagt sie. „Und, na klar, weitere Mitglieder von Udos Familie wären toll ...“

„Man muss am Objekt sein, es haptisch erleben können.“

Professori­n Madelaine Böhme „Es ist wirklich ein Fundort von weltweiter Bedeutung.“

Doktorandi­n Josi Hartung

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Foto: Markus Bär So wird man Udo ab Ende kommender Woche in Pforzen bei Kaufbeuren sehen können – bevor er auf „Wanderscha­ft“durchs All‰ gäu und vielleicht auch darüber hinaus geht.
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Foto: Christoph Jäckle Die Tübinger Professori­n Madelaine Böhme.

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