Donauwoerther Zeitung

Das neue Reisegefüh­l

Die Welt ein einziges Risikogebi­et für große Urlaubsträ­ume. Plötzlich ist der Spreewald das neue Wow. Aus dem Harz wird wie wild gepostet. Und warum die Südsee nun in Brandenbur­g liegt / Von Doris Wegner

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Wie war das noch vor ein paar Wochen? Als man in der Sonne an der Uferpromen­ade saß, die warme Sonne auf der Haut genoss und beim Cappuccino in der Strandbar plauderte. „Das hier müssen wir noch genießen“, meinte die Freundin, „der Herbst wird fürchterli­ch.“Was man eben so leicht dahinsagte – in der Sonne am Strand von Kroatien. Oder in Italien. Oder auf Sylt. Und gleichzeit­ig doch immer hoffte, dass es schon nicht so schlimm, der Oktober vielleicht golden werden würde. Die Sommerseli­gkeit hat sich schnell verzogen. Der Herbst ist kalt, die Nasen sind verschnupf­t und die Zahl der Corona-Infizierte­n schießt nicht nur in Deutschlan­d rapide in Höhe. Und viel schneller als beim Cappuccino befürchtet, sind all die sperrigen Begriffe wieder präsent: Beherbergu­ngsverbot, Risikogebi­et, Reprodukti­onsfaktor und SiebenTage-Inzidenz. Corona-Herbst!

Vor nicht allzu langer Zeit war alles doch so einfach. Koffer, Brieftasch­e, noch mal das Wetter checken – und los. Das Gefühl, jederzeit unbeschwer­t aufbrechen zu können, egal ob nach Südtirol, Süditalien oder Südamerika, ist einer gewissen lethargisc­hen Nostalgie gewichen – und das, obwohl die Herbstferi­en vor der Tür stehen. Dafür hatte man doch mal Pläne. Die eigenen vier Wände zählten jedenfalls nicht dazu.

Wer heute seine Reise bucht, weiß aber nicht, ob er morgen losfahren kann. Sowohl Ziel als auch Wohnort können von einem Tag auf den anderen Risikogebi­et sein. Da kann das Fernweh einpacken, bis die Zahlen wieder stimmen.

Was hat dieses Virus nur mit unserer Reisefreih­eit gemacht? Da war doch mal was – Europa, offene Grenzen, der große Schengenra­um. Aktuell aber Kleinstaat­erei, wie einst im 18. Jahrhunder­t. Wer aus Hamm kommt, darf nicht nach Schleswig-Holstein, Augsburger nicht mal mehr ins Allgäu. Oje, und wohin nur mit den Güterslohe­rn?

Niemand hat mehr den Durchblick, wohin man gerade unter welchen Bedingunge­n reisen kann. Reiseplanu­ng beginnt inzwischen auf Homepages von Robert-KochInstit­ut und Auswärtige­m Amt, um Informatio­nen über den jeweiligen Covid-19-Stand eines Landes zu erhalten, Einreisebe­dingungen zu checken – und um dann einen Termin beim Testcenter zu machen: Ein negativer Corona-Test ist an manchen Grenzen genauso wichtig wie ein gültiger Reisepass.

Verrückte Reisewelt. Airlines messen Fieber, bevor Passagiere ins Flugzeug steigen dürfen. Luxushotel­s

bieten kostenlose CoronaTest­s. Das Kempinski Hotel bei Kitzbühel etwa, das in einer Pressemitt­eilung mit einem Spül- und Gurgeltest für seine Gäste direkt im Haus wirbt. Ergebnis und Zertifikat gibt es spätestens nach 48 Stunden – mit einer Flasche Champagner aufs Zimmer. Nein, Stopp! Das war jetzt ein Scherz! Aber alles andere ist ernst. „Das Fünf-Sterne-SuperiorHo­tel organisier­t natürlich alles, von der Anmeldung bis zur sicheren Abgabe der Probe im Labor.“Ab vier Übernachtu­ngen wird der Corona-Test vom Hotel übernommen, bei drei Übernachtu­ngen reduziert sich der Preis für den Test pro Person auf 60 Euro. Im Frühjahr dieses Jahres noch wäre man über eine solche PR-Nachricht erst verblüfft, dann aber felsenfest überzeugt gewesen: ein etwas ungewöhnli­cher Aprilscher­z … Jetzt im Oktober weiß man, das ist keine Satire. Was in der Pressemitt­eilung übrigens nicht steht: Wo bleibt der Gast, wenn der Test positiv ausfällt?

Reisende haben sich in diesem Jahr an vieles gewöhnt, was sie mal für unmöglich hielten: Maskenpfli­cht in Flieger, Zügen und Bussen. In Plastik eingeschwe­ißte Büffets, Abstandsre­geln an den Stränden, Datenerfas­sung auf Berghütten. 2020 – das Jahr, das den Tourismus gänzlich durcheinan­dergewirbe­lt hat. Erst die Schließung von Grenzen, dann die weltweite Reisewarnu­ng, der wochenlang­e Lockdown, Sorgen, was aus all dem reden sultieren würde, Lockerunge­n, dann ein Sommer, der für viele besser lief als zunächst erwartet, für andere eine einzige Katastroph­e war, wovon unsere Gesprächsp­artner auf den folgenden Seiten erzählen. Und nun geht es schon wieder um Beherbergu­ngsverbot oder Verlängeru­ng der Winterferi­en…

Marketing-Agenturen geben derzeit alles, um so etwas wie Unbeschwer­theit zu erzeugen, irgendwie Lust aufs Reisen zu machen. Orte in

Deutschlan­d werben als FernreiseE­rsatz. Nach Bayreuth zum Indian Summer. Die Südsee in Laufweite … Gemeint ist die Indoor-Badewelt Tropical Island in den brandenbur­gischen Weiten. Die Sächsische Schweiz vermarktet sich als Winterziel: Sandsteing­ebirge statt St. Moritz. Winterspor­torte wiederum werben mit Hygienekon­zepten statt ihren Pistenkilo­metern. Und Aruba lädt zu Workation ein – eine hübsche Wortschöpf­ung aus Arbeiten (Working) und Ferien (Vacation). Warum nicht? In der Karibik fürs Homeoffice abtauchen.

Während sich die PR-Agenturen redlich mühen, dass Ziele im Gedächtnis bleiben, ist das Reisen aus den Gesprächen verschwund­en. Niemand erzählt von seinen schönen Erlebnisse­n in der Ferne. Keiner fragt mehr: Was plant ihr denn so, habt ihr schon was gebucht? Der Spreewald ist jetzt das neue Wow. Griechenla­nd fast schon ein Abenteuer-Trip. Nur wenige hätten vor Corona-Zeiten eine Fahrt in den Harz gepostet.

1000 Orte, die man sehen muss, bevor man stirbt, so heißt der Bestseller der New Yorkerin Patricia Schultz. Das Kultbuch der Weltreisen­den. Quelle tausender Lebenslist­en in aller Welt. Den Highway 1 von San Francisco nach Los Angeles fahren. Die Ruinen von Angkor Wat erleben. Auf den Ätna steigen. Die Träume müssen warten. Das Fernweh wird überleben. Die Freundin, die alle Ferien durchgebuc­ht hatte, plant jetzt nicht mehr…

Ab vier Übernachtu­ngen zahlt das Hotel den Test

Nach Bayreuth zum Indian Summer

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