Verraten, ohne zum Verräter zu werden
Gesundheitsminister Jens Spahn arbeitet hinter den Kulissen daran, doch noch Kanzlerkandidat zu werden. Dafür müsste sein Verbündeter allerdings das Rennen um den CDU-Vorsitz verlieren – oder er ihn aus dem Weg räumen
Berlin Bundesgesundheitsminister Jens Spahn übt sich an der hohen Kunst der Politik. Dabei geht es nicht um die Bekämpfung des Coronavirus, sondern um eine delikate Mission. Sie betrifft die Eroberung der Macht. Eigentlich sprechen die Umstände gegen ihn, doch der 40-Jährige sieht seine Zeit gekommen und versucht sich am Unmöglichen. Er braucht dafür viel Glück und viel Fingerspitzengefühl. Denn er muss den Verrat üben, ohne als Verräter gebrandmarkt zu werden.
Die Geschichte kennt den Verschwörer Brutus, der im alten Rom Cäsar meuchelte. Als einer der Erzverräter muss er seither in untersten Höllentiefen schmoren (zumindest in Dantes Göttlicher Komödie). Auch wenn es mehr als 2000 Jahre später unblutig zugehen wird, gibt es auch dieses Mal einen Cäsar. Er heißt Armin Laschet, ist Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Kandidat für den CDU-Vorsitz. Der neue Parteichef hat als Erster ein Zugriffsrecht auf die Kanzlerkandidatur der Union.
Spahn wird eine Woche vor dem Parteitag nicht mehr in das Rennen um den Vorsitz eingreifen. Er arbeitet jetzt an seiner Chance für die kurze Zeit danach. Denn es ist zwar wahrscheinlich, aber nicht sicher, dass der nächste Vorsitzende der CDU und CSU auch als Spitzenkandidat in den Wahlkampf führt. Deshalb sondiert Spahn sachte in den Landesverbänden seiner Partei, bei einzelnen Funktionären. Auch Bild und Der Spiegel berichten darüber.
Das Problem von Jens Spahn ist, dass er Armin Laschet die Treue geschworen hat. Er hat mit dem Ministerpräsidenten ein Duo gebildet, in dem er die Nummer zwei ist. Geschlossen haben sie diesen Pakt im Februar letzten Jahres. Das Coronavirus war in Deutschland angekommen, aber seine Gefährlichkeit noch nicht verstanden. Seinerzeit haben nur wenige erahnt, dass es das Leben derart umstürzen würde. Als Gesundheitsminister ist Spahn dadurch qua Amt zum wichtigsten Mann der Bundesregierung geworden. Er hat in dieser Zeit nicht alles richtig gemacht. Da gab es zu Beginn viel zu wenige Masken und Schutzkittel in den Kliniken, dringt das Virus in die Altenheime und von heute aus betrachtet hätte die Regierung schon im November den harten Zwangsstillstand verhängen müssen. Aber wer könnte behaupten, alles richtig gemacht zu haben im Kampf gegen diese Seuche?
Spahn hat unheimlich hart gearbeitet, er erläutert sachlich die Gefährlichkeit des Erregers, ohne Panik zu schüren, und präsentiert sich als Lernender, der auf nicht alles eine Antwort weiß. Das ist ein anderer Spahn als früher, der in der Flüchtlingspolitik die Provokation und sich gegen die Kanzlerin profilieren wollte. Angela Merkel hat dann ihren Widersacher in das Kabinett berufen und mit dem anspruchsvollen Posten des Gesundheitsministers eingebunden. Spahn hörte auf, auf den Putz zu hauen. Glaubt man den Umfragen, gehört er heute zu den angesehensten Politikern der Bundesrepublik. In der Gunst der Wähler liegt er weit vor Laschet, trotz der zuletzt auf ihn niedergehenden Angriffe wegen der schleppend gestarteten Massenimpfung. Die Bühne für Spahn, sie wird nie wieder größer sein als heute. „Ich traue mir den CDU-Vorsitz zu, aber auch alles, was daraus folgt“, sagte er im Dezember selbstbewusst dem Nachrichtenportal The Pioneer.
Im Politikbetrieb der Hauptstadt, aber auch in Laschets Lager, verfolgt man aufmerksam jede Positionierung von Spahn. Vielen ist nicht entgangen, dass die CDU-Nachwuchshoffnung – oder eher sein Umfeld, sagen manche – offenbar schon länger nach einem Weg sucht, aus dem gemeinsamen Team auszusteigen, ohne sich den Ruf des Brutus einzuhandeln. Auch lästern einige, dass in der Corona-Krise offenbar „Haltungsnoten mehr zählten als die Ergebnisse“.
Denn es erstaunt bei der CDU durchaus, dass Spahn zwar zahlreiche Managementfehler angelastet werden, er in den Umfragen (ähnlich wie Söder, dessen Resultate in Bayern auch nicht so überzeugten) aber zu den Corona-Gewinnern zählt. Eine Erklärung dafür könnte Spahns kluger Satz sein, man werde einander nach dieser Krise viel verzeihen müssen – weil ihn das gegen Angriffe immunisiert hat. Und schließlich ist Tuschelthema Nummer eins in der Union weniger der aktuelle Zoff zwischen Kanzlerin und Spahn (die beiden waren ohnehin nie Freunde), sondern das offensichtliche Werben von Altmeister Wolfgang Schäuble für jenen Mann, den er einst als Finanzstaatssekretär in seinem Ministerium gefördert hatte.
Laschet hat oft genug klargemacht, dass er seinen Anspruch auf die Nummer eins keineswegs so leicht aufgeben wird, nur weil die Umfragen nicht gut sind. Laschet hatte auch niemand zugetraut, in Nordrhein-Westfalen zu gewinnen. Zuletzt kämpfe Spahn für die Galerie wieder entschiedener für das gemeinsame Team mit Laschet, heißt es. Aber kämpft er nur für sich oder auch für Laschet?
Fest steht: Wird Friedrich Merz CDU-Vorsitzender, müsste Spahn seine Ambitionen auf eine Kanzlerkandidatur für dieses Mal begraben. Auch Norbert Röttgen würde zunächst eigene Ambitionen anmelsuchte den, ihm könnte Spahn freilich eine Kanzlerkandidatur noch entreißen. Röttgen selbst hat im Gespräch mit unserer Redaktion gesagt, dass er einem Kandidaten von CDU und CSU mit eindeutig besseren Chancen auf die Macht im Wahlkampf den Vortritt lassen würde.
Selbst unter einem CDU-Chef Laschet hofft Spahn offenbar genau darauf, sollte er in den Umfragen im Frühjahr weiter klar vor diesem liegen. Aber Laschet, so ist immer wieder zu hören, will keineswegs weichen und auch nicht CSU-Mann Markus Söder die Kanzlerkandidatur überlassen. Zeitgeschichtlich interessierte Unionsleute ziehen schon Parallelen zu 1976, als Helmut Kohl als weitaus schwächere politische Figur als etwa Franz Josef Strauß galt, aber trotzdem Kanzlerkandidat der Union wurde – und beinahe eine absolute Mehrheit holte.
Was passiert, wenn Spahns Manöver nicht aufgeht? Jedenfalls sieht er offenbar seine Zukunft nicht in Nordrhein-Westfalen (wo ja im Falle einer Laschet-Kanzlerschaft auch der Posten des Ministerpräsidenten neu zu besetzen wäre), sondern in Berlin. Etwa als starker Finanzminister oder auch als Fraktionschef der Union. So jedenfalls wurde der spektakuläre Kauf einer Millionenvilla in bester Berliner Lage von vielen verstanden – der Spahn im Wahlkampf noch kritische Fragen einbringen dürfte.
Bekommt Spahn je wieder eine derart große Bühne?