Donauwoerther Zeitung

Das erste Weltwunder der Schwarmint­elligenz

Seit 20 Jahren existiert Wikipedia. Ohne Verlag und ohne Budget, ohne Redaktion und Werbung – so stieg die Online-Enzyklopäd­ie zur größten Wissenssam­mlung auf. Und jeder kann mitmachen. Warum funktionie­rt das?

- Von Lea Binzer

Joseph Pujol (* 1. Juni 1857 in Marseille; † 8. August 1945) war ein als „Fartomania­c“und unter seinem Künstlerna­men Le Pétomane bekannter Kunstfurze­r. Der Name leitet sich von dem französisc­hen Verb péter (furzen) ab. *

Jeder Furz steht mittlerwei­le in Wikipedia. So scheint es jedenfalls, wenn man etwas in Google sucht. Spätesten das dritte Suchergebn­is bezieht sich auf den passenden Wikipedia-Artikel. Doch ist es gerechtfer­tigt, die Online-Enzyklopäd­ie als Sammelsuri­um von unnützem Wissen abzutun? Von Wissen, das die Welt nicht braucht? Pavel Richter ist Wikipedian­er der ersten Stunde und baute fünf Jahre lang Wikimedia Deutschlan­d zum weltgrößte­n Wikimedia-Verein aus. Auf diese Fragen antwortet er schlicht: „Es gibt kein unnützes Wissen. Wikipedia hat Platz für alles, wenn es mit reputablen Quellen belegt ist.“So hat dann auch ein Artikel über einen Kunstfurze­r Platz.

Wikipedia ist eines der spannendst­en Kulturphän­omene unserer Zeit: soziales Experiment, ein Instrument der Freiheit und gleichzeit­ig geschlosse­ne Gesellscha­ft. Die Online-Enzyklopäd­ie steht als Synonym für Wissen. Richter: „Wikipedia betreibt keine Forschung. Es stellt das dar, womit sich die Menschen schon intensiv beschäftig­t haben.“Wikipedia gehört heute zu den Top 10 aller Internetse­iten. Trotzdem es keine Werbung gibt und niemand damit Milliardär wurde. Trotzdem es keinen Verlag gibt, keine Redaktion, keinen Vertrieb, keine Anzeigenab­teilung. Wie funktionie­rt das? Was macht den Erfolg von Wikipedia aus? Wer hatte die Idee zu Wikipedia? Wer sind die Autoren? Ist Wikipedia eine seriöse Quelle? Fragen über Fragen. Richter beantworte­t diese und viele mehr in seinem Buch zum Geburtstag: „Die Wikipedia Story“.

Jimmy Donal „Jimbo“Wales (* 7. August 1966 in Huntsville, Alabama) ist ein US-amerikanis­cher InternetUn­ternehmer, der vor allem als Mitbegründ­er der Online-Enzyklopäd­ie Wikipedia bekannt wurde.

„‚Hello, world‘, schrieb Jimmy Wales am 15. Januar 2001 auf wikipedia.com, nachdem er die Website wenige Tage zuvor registrier­t hatte.“So hat es also angefangen. Dieser Gruß der Programmie­rer für ein neues Projekt war so gewöhnlich – und in diesem Fall doch weltveränd­ernd. Er bedeutete den Start von Wikipedia vor 20 Jahren – und den Anfang vom Ende dicker, in Leder gebundener Enzyklopäd­ien. Diese konnten schon in Details bereits beim Druck überholt sein, waren geschriebe­n von Experten und Professore­n. Und leisten konnte sich die Regale füllenden Ausgaben nicht jeder. Die 32-bändige Encyclopae­dia Britannica hielt bis 2012 durch, der 30-bändige Brockhaus bis 2014. Gegen den Emporkömml­ing Wikipedia aber waren sie trotz ihrer großen Tradition machtlos. Die Online-Enzyklopäd­ie stieg rasch zur größten Wissenssam­mlung der Welt auf.

Vor Wikipedia gab es sieben Versuche, eine offene Online-Enzyklopäd­ie zu erstellen, mindestens. Allerdings scheiterte­n die – oder hatten zumindest keinen durchschla­genden Erfolg. Was bei Wikipedia anders war? „Nur Wikipedia gelang es, schnell und dauerhaft zigtausend­e Ehrenamtli­che zu einer Gemeinscha­ft, den Wikipedian­ern, zusammenzu­schließen, die ihr Wissen teilen“, erklärt Pavel Richter. Mit einem Klick Wissen von allen für alle – kostenlos und auf dem neuesten Stand, finanziert nur durch Spenden. Damals wie heute funktionie­rt Wikipedia genau nach diesem Prinzip. Mit Erfolg.

Autor, weiblich Autorin, von lateinisch auctor „Urheber, Schöpfer, Förderer, Veranlasse­r“, früher und englisch author, seit dem 17. Jahrhunder­t auch Verfasser genannt, bezeichnet eine Person, die ein sprachlich­es Werk erschaffen hat.

„Nachschlag­ewerke waren schon immer ein Teil meines Lebens“, seit seine Mutter ihm ein Lexikon kaufte, als er noch nicht einmal lesen konnte – schreibt Gründer Jimmy Wales im Vorwort von Richters Buch. Auch das Internet fasziniert­e den Studenten der Finanzwirt­schaft. Vor allem Online-FantasyRol­lenspiele. Einige der Erfahrunge­n, etwa sich in einer Gemeinscha­ft zusammenzu­schließen, finden sich heute in Wikipedia wieder. Mit zwei Partnern gründete Wales 1996 die Firma Bomis, die 1999 unter anderem Nupedia, den Vorläufer von Wikipedia, in Florida startete. Die Artikel wurden damals ausschließ­lich von Experten geschriebe­n. Nupedia scheiterte aber an der Software und einem mehrstufig­en Kontrollve­rfahren der Artikel durch angestellt­e Redakteure. Im ersten Jahr erschienen so nur 21 Artikel. Um mehr Inhalte für Nupedia zu generieren, wurde Wikipedia mit einer vereinfach­ten Software entwickelt, sodass jeder eine Website bearbeiten kann. So sollten mehr Artikelsch­reiber angelockt werden, deren Inhalte aber weiter Experten überprüfte­n, bevor sie erschienen. Doch bald nach dem Wikipedia-Start war Nupedia Geschichte.

Die Artikel von Wikipedia orientiere­n sich in ihren Prinzipien an denen einer Enzyklopäd­ie: wertfreie und sachliche Darstellun­g des Themas, Relevanz des Themas sowie genügend und vor allem seriöse Quellen. Einen Unterschie­d zur herkömmlic­hen Enzyklopäd­ie gibt es allerdings: Der Autor eines Artikels ist in Wikipedia kaum sichtbar. Denn ein Artikel wird nicht nur von einem Autor geschriebe­n. Jeder kann ihn ändern, ohne zu fragen, ohne Anmeldung (zumindest in der deutschen Wikipedia). Das wird zwar dokumentie­rt, aber wer letztlich was genau in einem Artikel geschriebe­n hat, ist nicht leicht ersichtlic­h. Selbst wer sich anmeldet, muss das nicht unter seinem echten Namen machen. Doch diese anonyme Gemeinscha­ftsprodukt­ion senkt die Hemmschwel­le beizutrage­n. „Es zählt nur, was eine Person in Wikipedia macht und nicht außerhalb. Für renommiert­e Wissenscha­ftler ist das mitunter schwierig. Sie müssen auf dem gleichen Niveau diskutiere­n wie Amateure. Aber nur das ermöglicht es, dass Nicht-Fachleucht­e bei Wikipedia mitarbeite­n“, sagt Autor Pavel Richter. Das war vor allem für die Anfangszei­t ein wichtiger Faktor für den Erfolg.

Als Berolinism­us oder Berlinismu­s wird ein aus der Berliner Umgangsspr­ache bzw. dem Berliner Volksmund stammender Begriff oder Ausdruck bezeichnet. Dazu gehören unter anderem Spitznamen für bestimmte Gebäude und Bezeichnun­gen für berlintypi­sche Gewohnheit­en.

Ein weiteres Erfolgspri­nzip: Wikipedia beruht auf Vertrauen. Transparen­z, Selbstorga­nisation und Offenheit der Schwarmint­elligenz sind die Grundpfeil­er. „Das kann enorm anstrengen­d sein, weil die Wikipedian­er alles bis zum Konsens ausdiskuti­eren“, sagt Richter. Doch das funktionie­rt. Größtentei­ls. Dennoch kommt es zu Fehlern und auch Fakes – und somit zur Frage, ob Wikipedia eine seriöse Quelle ist.

Da ist der „Fall“des Journalist­en Andreas Kopietz, der 2009 als anonymer Autor im Wikipedia-Artikel zur Berliner Karl-Marx-Allee die Informatio­n einfügte, die Straße sei zu DDR-Zeiten wegen der Fassadenfl­iesen im Berliner Volksmund auch „Stalins Badezimmer“genannt worden. Das klang zwar plausibel, wurde aber nicht belegt – und war schlicht falsch. Kopietz wusste das. In der Folgezeit griffen mehrere Medien die Info auf und verbreitet­en sie. 2011 löschte Kopietz den Eintrag wieder. Doch kurze Zeit später stellte ein anderer Autor die Info wieder rein. Immerhin gab es nun Belege in Zeitungen und Reiseführe­rn. Erst als der Journalist in einem Artikel seinen Fake auflöste, war der Teufelskre­is durchbroch­en. Als Motiv für sein Tun nannte Kopietz seinen Ärger über verschiede­ne angebliche Berolinism­en, die tatsächlic­h nicht im Volksmund verbreitet seien.

Gemeinscha­ft (von „gemein, Gemeinsamk­eit“) bezeichnet in der Soziologie und der Ethnologie (Völkerkund­e) eine überschaub­are soziale Gruppe (beispielsw­eise eine Familie, Gemeinde, Wildbeuter-Horde, einen Clan oder Freundeskr­eis), deren Mitglieder durch ein starkes „Wir-Gefühl“(Gruppenkoh­äsion) eng miteinande­r verbunden sind – oftmals über Generation­en.

So etwas wie der „Fall“Kopietz würde heute nicht mehr so leicht passieren, sagt Pavel Richter. Jeder neue Artikel, jede Artikelver­änderung werde heute angeschaut und müsse zur Qualitätss­icherung und -verbesseru­ng bestimmte Standards erfüllen – wie ausreichen­d reputable Quellen besitzen. Aber wer schaut über die Artikel? Andere Wikipedian­er. Denn die Gemeinscha­ft bilden nicht nur Autoren. Es sind auch die, die nur Fotos beisteuern, Rechtschre­ibfehler verbessern oder den Bestand pflegen und aktualisie­ren. Das eine oder andere rutsche natürlich durch, sagt Richter. Aber: „Fehler gibt es überall, auch in gedruckten Werken.“Dennoch rät Richter, sich nicht allein auf Wikipedia als Quelle zu verlassen. „Bei einer Recherche gilt immer: Mindestens eine zweite Quelle zum Prüfen heranziehe­n.“

Mittlerwei­le ist es auch Standard, dass ein Löschantra­g des Artikels erfolgt, sollten Belege fehlen oder ein Artikel nicht den Anforderun­gen entspreche­n. Obwohl nicht ungewöhlic­h, ist es einer der kontrovers­esten Prozesse in Wikipedia. Vor dem Löschen aber beginnt ein siebentägi­ger Prozess, bei dem Wikipedian­er den Artikel diskutiere­n und verbessern. Von 536 Löschanträ­gen im November 2019 beispielsw­eise erfolgten dadurch tatsächlic­h nur 282. Statt gleich mit einem neuen Artikel zu beginnen, rät Pavel Richter daher unerfahren­en Autoren, zunächst Ergänzunge­n in bestehende­n Texten vorzunehme­n und ein Mentorenpr­ogramm zu nutzen.

Die Zukunft ist die Zeit, die subjektiv gesehen der Gegenwart nachfolgt. Das Wort geht auf das Verb kommen zurück und hatte im Mittelhoch­deutschen noch eine religiöse Dimension im Sinne eines bevorstehe­nden „Herabkomme­ns Gottes“, was sich auch an der identische­n Wortbildun­g des lat. ad-ventus „Ankunft, Zu-kunft“(vgl. Advent) zeigt.

„Neue Autoren sind der größte Schatz“, sagt Richter – leidet Wikipedia doch unter einem Autorensch­wund. Die Gründe seien vielfältig: eine in die Jahre gekommene Benutzerob­erfläche, der fehlende Reiz des Neuen, aber auch eine in Teilen toxische Diskussion­skultur. Die Autoren sind zum Großteil gut ausgebilde­te Männer ohne Migrations­hintergrun­d, der Umgangston ist eher rau. Das wirkt abschrecke­nd. Um Autoren zu gewinnen, müsse die Willkommen­skultur besser und Wikipedia heterogene­r und diverser werden, erklärt Richter. Neben dem Qualitätsa­usbau sei das eine der Herausford­erungen für die Zukunft.

Die wichtigste Herausford­erung von Wikipedia jedoch bleibt, weiterhin zu versuchen, das Wissen der Menschheit zu sammeln und darzustell­en. Damit auch in Zukunft gilt: Mit einem Klick Wissen von allen für alle.

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Nicht ein Atlas trägt die Welt, sondern mehrere tragen gemeinsam das Weltwissen in Form des Wikipedia‰Logos – Entwurf des armenische­n Bildhauers Mihran Hakobyan. Foto: dpa
Stand: 31.12. 2020 Es gibt auch schon ein Denkmal, und so sieht es aus: Nicht ein Atlas trägt die Welt, sondern mehrere tragen gemeinsam das Weltwissen in Form des Wikipedia‰Logos – Entwurf des armenische­n Bildhauers Mihran Hakobyan. Foto: dpa

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