Das Münster im Blut
Die Unesco hat die Tradition der Bauhütten zum immateriellen Kulturerbe erklärt. In diesen Werkstätten arbeiten Spezialisten an den größten Kirchen Europas, an einem Stück für die Ewigkeit. Eine Geschichte über das Herz von Ulm und seine Bewahrer
Ulm Höhenangst? Dieses Gefühl kennt Andreas Böhm nicht. Aber als er vor 14 Jahren seine Arbeitsstelle antrat, wurde selbst ihm – ein Steinmetz, ein Franke mit Bodenhaftung, jedes „R“rollt ihm gemütlich über die Zunge, wenn er ins Plaudern kommt – kurz schwindlig. „Das kann einen schier ohnmächtig machen“, raunt Böhm.
Er muss nur daran denken, wie viele Jahrhunderte diesen Münstermauern in den Knochen stecken. Wie viele Steine gerade eine Macke haben, wie viele Winkel und Enden er mit seiner Mannschaft noch prüfen, sichern und runderneuern muss. Eine Arbeit, die nie enden wird rund um den höchsten Kirchturm der Welt.
Andreas Böhm ist der Meister der Ulmer Münsterbauhütte. Auch wenn kurz einmal Gefühle aufkommen, als er über Münster und das Gewicht seines Amtes spricht, besinnt er sich schnell wieder. Er ist Handwerker. „Wir machen ja bloß Kosmetik“, sagt Böhm.
Aber ein Blick in die Werkstätten genügt, um zu verstehen: An dieser Dauerbaustelle geht es um viel mehr als Schönheit. Böhm ist, wenn man so will, Historiker, Denkmalpfleger, Sicherheitsbeauftragter, Angestellter der evangelischen Kirche, Chef eines Teams, alles in einem. Und seit 2020 ist die Arbeit, die seine Hütte leistet: Welterbe.
Die Unesco hat das Bauhüttenwesen im Dezember zum „immateriellen Kulturerbe“erklärt, zu einer schützenswerten, herausragenden Handwerkstradition. Was im Mittelalter als Knochenarbeit begann,
sein
ehrt heute eine UN-Kulturorganisation: Als die Kirchen in den Himmel schossen, zur Zeit der Gotik, lag alle Last auf den Arbeitern in den Bauhütten. Sie schufen Handarbeit im Schmelztiegel: In den Hütten mischten sich verschiedene Gewerke und die Gesellen und Meister wanderten von einer Großbaustelle zur nächsten – Dome, Münster, Kathedralen. Sie waren der Motor in einem Wettrennen, das sich viele Städte in Europa lieferten, zwischen Straßburg, Köln und Ulm. Wer hat den höchsten Turm, wer kommt Gott am nächsten?
Als die Gotik dann im 19. Jahrhundert wieder eine Renaissance erlebte, Großbauten wie das Münster vollendet werden wollten, gründeten sich neue Hütten im Stil der alten. 17 davon sind jetzt Kulturerbe, von Bamberg und Ulm über Schwäbisch Gmünd, Straßburg, Trondheim, Wien und Basel.
Die Ulmer Münsterbauhütte liegt im Schatten der Mauern, dicht am nördlichen Seitenschiff. Ein kleiner, kantiger Backstein-Bau neben einem modernen Anbau mit Glasfassade. Im Innenhof bedeckt Schnee die alten und neuen Steine für das Gotteshaus, schlicht bis prunkvoll verziert und verschnörkelt. Die Tür öffnet sich. Rund um die Werkbänke hängen Pläne und Schablonen, alte und neue Instrumente. Wie Rüssel hängen Absauganlagen über den Arbeitsflächen. Sie saugen den Staub auf, den die Druckluftmeißel aus den Steinen klopfen, die jetzt surren wie ein Konzert von Zahnarztbohrern.
Ein Handwerker prüft gerade eine Kreuzblume, sein Blick wandert vom Sandstein zum Muster auf Papier, das an der Pinnwand hängt. Außerdem kann er die Vorlage auch im 3D-Modell am Computer betrachten im Raum nebenan. Hüttenbauarbeit funktioniert noch immer mit Hand und Augenmaß – aber eben auch modern und gar nicht mittelalterlich. „Man sollte schon lesen können, dass so ein Stein im 21. Jahrhundert bearbeitet wurde“, sagt Böhm und wirft einen Blick auf einen Plan an der Wand. Der liest sich fast wie eine Lego-Bauanleitung für Fortgeschrittene – Bauset
Münsterturm. Stein Nummer 04046 ist violett markiert, er ist einer von 4000 Brocken und Figuren, die ihre Zeit überdauert haben. Die violetten müssen ausgewechselt werden, sagt Böhm. Jede Großbaustelle am Münster kostet Jahrzehnte. So arbeitet sich die Hütte in 100 Jahren einmal um diesen Giganten herum.
„Wir müssen Spuren lesen können, uns auf die Fährte begeben, zum Beispiel, welche chemischen Mittel vor ein paar hundert Jahren für den Mörtel verwendet wurden“, erklärt Andreas Böhm. Bei der Suche helfen Handbücher der Ahnen, aber auch geologische Analysen und ein teleskophaftes Gerät, mit dem Böhm die kleinste Verschiebung im Gestein vermisst. Bewegungen von kaum einem Millimeter im Jahr.
„Wir wollen keine Spuren hinterlassen. Wir wollen Kopien machen“, sagt Böhm. Ein Original dagegen ist Emil Kräß. Vier Handwerker arbeiten gerade an vier Steinen, mit Gehör schutz, Maske undSic her heits brille, im Kapuzen pulli mit dem Bauhüttenlogo – aber Kräß fällt auf. Er trägt Schürze und Schiebermütze und sein grauer Rauschebart spitzt unter seiner Maske hervor.
Kräß arbeitet seit fast 35 Jahren in der Münsterbauhütte. „Für mich ist mein Beruf Berufung“, sagt er und ruft dabei gegen das Surren der Geräte an. Auch er bückt sich gerade über eine Kreuzblume. „Typisch gotischer Zierrat“, sagt er. Diese Blume wartet darauf, ihren Platz für die Ewigkeit einzunehmen. Oder zumindest für die nächsten hundert Jahre. Auf 54 Metern Höhe, Nordseite, werden sie diesen Stein setzen.
Kräß erklärt die traditionellen Instrumente: Zweispitz, Flachhammer, Krönel. Werkzeug, mit denen sie Fialen, Knäufe, Gesimse, Strebebögen, Baldachine und Wasserspeier schaffen. Kräß hat Lieblinge: „Zum Beispiel am Hauptturm, da gibt es Hunde und Löwen, die sieht der Besucher nie. Die sind nur für den lieben Gott gemacht.“Über den Vogel Strauß, der in der Höhe dem Münsterplatz sein Hinterteil entgegenstreckt, lächelt er auch noch nach 35 Jahren. „Früher hatten wir für die Wasserversorgung dort oben vier alte Milchkannen und keine Wasserpumpe. Damals hatten wir auch noch freischwebende Winden für den Transport“, erzählt der Steinmetz. „Heute haben wir einen ordentlichen Aufzug für Material und Personen.“
Was der Steinmetz jetzt erzählt, klingt wie die Eröffnung für einen alten Witz: Wie viele Handwerker braucht man, um eine Glühbirne auszuwechseln? Früher waren es vier, die in zehn Metern Höhe die Lichter im Innern des Münsters einund ausschraubten. Aber was sind schon zehn Meter bei einem Bauwerk, das eine Stadt und einen ganzen Landstrich überragt. „Respekt vor der Höhe haben wir immer gehabt. Und oft auch Glück“, sagt Kräß. Aber über die riskanten Geschichten schweigt er lieber. Sicherer sei sein Beruf geworden, vor allem gesünder. Früher arbeiteten die Steinmetze oft mit Muschelkalk, nun vor allem mit Sandstein und moderner Absauganlage für den Feinstaub.
Das Münster ist hier Patient, und Andreas Böhms Diagnose scheint klar: „Der Mensch setzt dem Stein sehr zu.“Jede Epoche bringt ihre eigene Last mit sich. Im 19. Jahrhundert wuchs der Westturm so hoch wie kein anderer vor und nach ihm. Das Problem: 51 500 Tonnen Druck auf das Fundament. Ein Gerüst aus Kruppstahl, aus 14 Stangen, sichert jetzt den Westturm tief im Boden. Unter der Erde, wo nur die Münster bau hütten mannschaft Einblick hat. Ab 1850, da war die Bauhütte kaum neu gegründet, lag dann eine Gefahr inder Luft. Die Industrialisierung blühte, saurer Regen fiel. „Wir arbeiten heute immer noch dem sauren Regen hinterher.“
So ein Block aus Stubensandstein werde 100 Jahre alt, sagt Böhm. „20, 30, 50 Jahre, das ist für uns eben keine Dimension. Da geht es erst los. Fast jeder Stein, den wir setzen, wird uns locker und leicht überleben.“
Und so ein Stein lebe nicht nur. „Der spricht, sogar ganz gewaltig.“Jeder Stein erzählt von seiner Entstehung. Im Obernkirchener Sandstein, den die Münsterbaumeister verarbeitet haben, finden sich fossile Spuren. Dinosauriergebeine, versteinert über mehr als hundert Millionen Jahre.
Jede Woche begibt sich Böhm auf einen großen Rundgang, um die Sicherheit zu prüfen und damit Ulmer und Touristen auf dem Münsterplatz zu schützen. Eine bürokratisch ausgefeilte Brandschutzverordnung existierte im 14. Jahrhundert nicht. Als dann 2019 die Pariser Kathedrale
Notre-Dame in Flammen aufging, schreckte auch die Bauhütte in Ulm auf. „Da haben wir uns noch einmal ins Gebet genommen, miteinander.“Dennoch kein Grund zur Panik: „Wir haben keinen hölzernen Dachstuhl. Leider. Denn das ist schon der Hammer, ein ganz anderer Geruch.“
Den Austausch mit Hütten wie in Köln und Freiburg pflegt Böhm, so wie es gute Tradition ist. „Wir sind keine Konkurrenten.“Bei Dombaumeistertagungen erklärt jeder, an welchen Ecken, Türmen, Gemäuern und Böden es an seiner Kirche hakt. Als dann der Ulmer Münsterbaumeister Michael Hilbert das Projekt Unesco-Kulturerbe vorantrieb, rückten Europas Bauhütten noch enger zusammen, im Netzwerk, das sich um die Riesen der Gotik kümmert. „Eine Auszubildende unserer Hütte hat auch zwei Wochen am Straßburger Münster gearbeitet.“
Hilbert, der 20. Münsterbaumeister, ist 2020 gestorben. Böhm bewahrt sein Erbe, der Hüttenmeister vertritt den Baumeister, bis eine Frau das höchste Amt antritt.
Anruf in Bamberg, bei Heidi Vormann. Sie ist Architektin, Expertin und vermutlich schon ab dem Frühjahr die neue Leiterin des Ulmer Münsterbauamtes. Es ist die Behörde, die der Bauhütte vorsteht.
Heidi Vormann, 21. Münsterbaumeisterin – wie klingt das in ihren Ohren? „Es fühlt sich nicht mehr ganz so gruselig an wie in dem Moment, als die Entscheidung fiel“, antwortet sie. „Trotzdem habe ich totale Ehrfurcht. Das hat einen ganz besonderen Klang.“Fast jeder, der Architektur studiere, wolle Neues bauen, sagt Vormann. Sie aber möchte erhalten, sichern und auf das Leben im alten Gemäuer reagieren.
„Sehr sympathisch und sehr menschlich“findet sie die Mannschaft, den Zusammenhalt in der Bauhütte. Wie Böhm baut auch Vormann auf europäische Vernetzung und Hilberts Vermächtnis. Ihre Philosophie lautet: „Jemand, der leitet,
Es klingt wie ein Konzert von Zahnarztbohrern
Der Chef sagt: Wir sind eine knackige Mannschaft
muss auch laufen lassen. In der Hütte gibt es Steinmetze, die dort seit Jahrzehnten arbeiten. Denen muss ich nichts vormachen.“Auch das Band zwischen Stadt und Münster beeindruckt sie: „Das Münster war von Beginn an ein Bau, den die Bürger wollten. Die Gefühle der Ulmer für das Münster sind bis heute stark.“
Böhm sagt: „Wir sind eine effektive, knackige Mannschaft.“Als er 2006 seine Stelle antrat, waren sie zu neunt. Heute arbeiten sich 20 Handwerker am Münster ab, darunter Schreiner, Restauratoren, drei Lehrlinge, Steinmetze. Einige Bräuche aus alter Zeit haben die Münstermetze wieder aufgefrischt. Ruhmvoll: Jeder Geselle, der seine Prüfung besteht, erhält sein eigenes, persönliches Steinmetzzeichen – das sich manch einer vor Stolz tätowieren lässt. Schmachvoll: „Verhaut“ein Handwerker einen Stein, muss er das missglückte Werkstück am nächsten St.-Bernhards-Tag, dem 9. November, zu Grabe tragen. Wer so einen „Bernhard“produziert, dem ist wohl eine liebevolle Standpauke sicher.
„Ich habe selbst leider noch keinen Stein fürs Münster gehauen“, erzählt Andreas Böhm. Dabei stammt er aus einer Handwerkerfamilie und wollte schon früh Steinmetz werden. Jetzt ist er der Kopf der Hütte. In diesen Tagen hängt ein Aufruf an der Glasfassade des Werkstattanbaus: Lehrling gesucht. „Handwerkliches Geschick gehört dazu, ein Gespür für Geometrie, und man sollte den Stein schon einmal gerochen haben. Der Beruf zehrt auch an den Kräften, man kriegt blutige Hände“, erzählt der Hüttenmeister. 14 Steinmetze hätten im vergangenen Jahrzehnt im Münster ihre Lehrjahre absolviert. Wer hier lernt, ist gefragt bei jedem Betrieb, der nach einer Fachkraft sucht. Aber: Früher bewarben sich 20 junge Menschen auf so eine Stelle. Heute zwei bis drei. „Keiner hat mehr den Hang dazu, sich die Hände schmutzig zu machen.“Trotzdem würden Böhm und Kräß ihren Weg weiterempfehlen, auf den Spuren der Tradition. Arbeit am Kulturerbe.
Oder wie der Meister seine Mannschaft beschreibt: „Die haben das Münster im Blut.“