Eisenbahnkrimi in Schwaben
Der Schweizer Hersteller Stadler hat Angst, dass die Technik seiner Züge in einem Wartungswerk in Langweid bei Augsburg ausspioniert werden könnte. Dort wird sich eine russische Firma um die Züge kümmern
Langweid/Zug Am Ende mag es in dem bayerisch-britisch-schweizerisch-russischen Wirtschaftskrimi lediglich eine wortspielerische Pointe sein, dass die Firma TMH International – kurz TMHI – sich ausgerechnet im schweizerischen Ort Zug angesiedelt hat. Denn das gänzlich zum russischen Eisenbahnriesen TMH Group gehörende Unternehmen wartet alle Arten von Schienenfahrzeugen.
Das ist nur ein Randaspekt in einem Lehrstück darüber, wohin die Globalisierung der Wirtschaft führen kann, ja welche Konflikte sich ergeben, wenn an einem Projekt eine Vielzahl von Firmen aus unterschiedlichen Ländern und politischen Einflusssphären beteiligt sind. Die TMHI-Manager sind jedenfalls gerade dabei, ihre schon in Moskau, Argentinien, Ägypten, Ungarn, Kasachstan und Südafrika erfolgten Fußabdrücke um einen bayerischen in Langweid bei Augsburg zu erweitern. Das wäre, was die international innig verflochtene schwäbische Wirtschaft betrifft, noch kein Grund zu einer intensiveren Betrachtung, sondern schlicht der Normalfall.
Die Umstände des Engagements der Tochterfirma der russischen TMH Group sind dann jedoch speziell. Denn der Mutterkonzern ist nach eigenem Bekunden der weltweit viertgrößte Hersteller von Schienenfahrzeugen und der größte Instandhaltungsspezialist auf der europäischen Branchen-Rangliste. Hinter der TMH Group, also der Transmash-Holding, stecken direkt und indirekt unter anderem die russische Staatsbahn und ein Steinkohleförderunternehmen des rohstoffreichen Landes. Zudem dürfen die französischen Zug-Bauer von Alstom mitspielen, die mit dem Konkurrenten Siemens fusionieren wollten, ehe die EU-Wettbewerbshüter die Eheanbahnung verhinderten.
Die in der Schweiz Zuflucht gefundene Zugwartungstruppe der Russen hat am 1. Dezember 2020 vom bayerischen Ableger des britischen Bahnbetreibers Go-Ahead einen zwölf Jahre laufenden Wartungsvertrag für 78 elektrische Züge ergattert. Die Briten wiederum sicherten sich zuvor vom Freistaat Bayern und dem Land BadenWürttemberg den Zuschlag dafür, künftig die Nahverkehrsstrecken des Elektronetzes Allgäu und des Augsburger Netzes betreiben zu dürfen.
Go-Ahead Bayern ist in Augsburg heimisch geworden und wirbt auf der Internetseite mit dem Slogan „Ein Stück Heimat auf der Schiene“um zusätzliches Personal wie Triebfahrzeugführer und Kundenbetreuer. So wollen die Briten Fahrgäste ab Dezember 2021 auf der Strecke München – Buchloe – Memmingen – Kißlegg – Hergatz – Lindau und ab Dezember 2022 auf den Routen Ulm – Augsburg – München, Würzburg – Ansbach – Treuchtlingen – Donauwörth – Augsburg sowie
Aalen – Nördlingen – Donauwörth betreuen. Die Go-Ahead-Briten legen dabei Wert auf Bodenständigkeit: „Uns ist es wichtig, Verantwortung nicht nur als regionaler Arbeitgeber wahrzunehmen, sondern auch Partner der Region zu sein.“
Auch TMH International hat sich in einem Presse-Statement vom 1.Dezember 2020 schon zur neuen schwäbischen Eisenbahnwerkstatt in Langweid bekannt: „Als industrieller Investor haben wir uns verpflichtet, zum wirtschaftlichen Wachstum der Region Augsburg beizutragen, indem wir eine beträchtliche Anfangsinvestition in die Werkstatt sowie hoch qualifizierte und stabile Arbeitsplätze bereitstellen.“In das schwäbische Betriebswerk sollen rund 40 Millionen Euro fließen. Das Unternehmen hat bereits ein Team von deutschen Fachkräften eingestellt und will die Belegschaft auf bis zu 70 Mitarbeiter ausbauen. Die Spezialisten sind dann für 78 Züge und damit 280 Wagen verantwortlich.
Terence Watson, Senior Vice President Europe von TMH International, sagte: „Deutschland und insbesondere Bayern sind stolz auf ihre lange Eisenbahntradition und ihr Fachwissen.“Und Hans Schabert, Präsident von TMH International, ist zufrieden, den Wartungsauftrag für die Bayern-Züge erobert zu haben: „Wir freuen uns sehr über die Zusammenarbeit mit Go-Ahead. TMH International ist ein Newcomer auf dem deutschen Markt.“
An letzterem Umstand setzt nun der Wirtschaftskrimi ein. Denn GoAhead hat für das Allgäuer Netz 22 Züge vom Schweizer Hersteller Stadler und für das Augsburger 56 von Siemens gekauft, also von Konkurrenten der russischen TMHIAuch wenn die Züge bayerisch-landestypisch blau und auch mit weißen Elementen eingefärbt werden, ist Unruhe in die neue internationale Bahn-Welt im Freistaat gekommen. Vertreter der Schweizer Stadler Rail AG mit über 75-jähriger Erfahrung im Bahn-Business (Motto: „Einen Zug voraus“) üben massive Kritik am Go-Ahead-Management, weil das Unternehmen die Wartung der Züge für Bayern ausgerechnet an die Tochtergesellschaft eines russischen Konkurrenten vergeben hat.
Aus Sicht der Schweizer liegt hier im globalisierten Wirtschaftsspiel ein Tabubruch vor. Silja Kollner, Leiterin Kommunikation und Marketing von Stadler Deutschland, sagte in einem Gespräch mit unserer Redaktion: „Unsere größte Sorge ist, dass entgegen den Vereinbarungen, die wir mit Go-Ahead getroffen haben, wichtige Unterlagen über unsere Züge dem russischen, stark expandierenden Wettbewerber in die Hände fallen.“Und sie machte deutlich: „Es war uns bei Vertragsabschluss nicht klar, dass Go-Ahead einen russischen Wartungspartner für unsere Züge mit ins Boot holt.“Stadler habe in dem Vertrag nicht zugestimmt, dass technische Dokumentationen an Dritte ohne Zustimmung weitergegeben werden dürften.
Durch die Vorhaltungen der Schweizer steht also der Verdacht einer möglichen künftigen Industriespionage im Raum. Langweid würde, wenn die Stadler-Leute recht behielten, zum Ort eines Thrillers. Silja Kollner betont auf alle Fälle: „Wir sehen die Konstellation in Langweid mit großer Sorge. Unser geistiges Eigentum ist unser größtes Kapital.“
Was sich zumindest nach Darstellung der Schweizer nach einem mutmaßlichen Krimi in Schwaben anhört, wird von Go-Ahead Bayern auf Anfrage unserer Redaktion tiefer gehängt. Zur massiven Kritik von Stadler meinte UnternehmensSprecher Winfried Karg: „Wir sehen das nicht so. Darüber hinaus kann ich nur sagen, dass wir mit der Firma Stadler in Gesprächen sind und daher derzeit keine weiteren Aussagen treffen können.“
Nach Informationen aus Industriekreisen könnten solche Gespräche zwischen Stadler und Go-Ahead bereits in der kommenden Woche, womöglich am 5. Mai stattfinden.
Wie zu erfahren ist, haben sich die Briten für TMHI entschieden, weil die Firma im Ringen mit Wettbewerbern schlicht das beste Angebot vorgelegt hat. Während die Stadler-Verantwortlichen vor den Verhandlungen also öffentlich Druck machen, gibt sich Siemens zurückhaltend. Unternehmenssprecher Claas Belling sagte auf Anfrage nur: „Wir kennen das Thema der Vergabe des Wartungsauftrages und befinden uns mit dem Kunden GoAhead in Verhandlungen. Aufgrund der laufenden Verhandlungen äußern wir uns nicht weiter dazu.“
Von unserer Redaktion mit den Stadler-Vorwürfen konfrontiert, nahm auch TMH Germany am Freitagabend Stellung. In dem Statement heißt es: „Es ist heutzutage üblich, dass die meisten Zugflotten auf der Welt von Drittunternehmen gewartet werden.“Alle Zugbetreiber hätten dabei die selbstverständMutter. liche, uneingeschränkte Berechtigung, ein beliebiges Wartungsunternehmen zu wählen. Das Unternehmen versicherte zudem: „TMH Germany wird die Wartungsleistungen streng nach den Handbüchern unter einer bestehenden Geheimhaltungsvereinbarung erbringen.“Der Hersteller der Züge müsse TMH Germany natürlich die zugehörigen Wartungshandbücher zur Verfügung stellen.
Der entscheidende Punkt aus Sicht des Unternehmens ist aber: „Wir möchten betonen, dass diese Dokumente keine technischen Zeichnungen oder Ähnliches enthalten, die es erlauben, den Zug neu zu konstruieren und zu bauen.“Es handele sich lediglich um Wartungsdokumente für den Service und die Instandhaltung der Züge. Die Tochter des russischen Konzerns will mit diesen Argumenten also den Verdacht einer möglichen künftigen Industriespionage in Langweid widerlegen.
Branchen-Insider wiederum verweisen auf einen interessanten Wirtschaftskrimi in Norwegen, in dem ebenfalls die Russen eine zentrale Rolle spielen. In dem Zusammenhang ist ein Bericht des BusinessPortals Norwegen von 23. März 2021 aufschlussreich. Dort heißt es, die Regierung des Landes wolle den Verkauf des norwegischen Maschinenbauunternehmens Bergen Engines an die russische TransmashHolding TMH stoppen.
Damit, so die Argumentation der norwegischen Regierung, soll sichergestellt werden, dass nationale Sicherheitsinteressen nicht bedroht würden. Verteidigungsminister Frank Bakke-Jensen wird wie folgt zitiert: „Ich bin besorgt über die Sicherheitsherausforderungen, die ausländische Akquisitionen mit sich bringen.“
Zur Begründung der Ablehnung der Übernahme der Firma führte die norwegische Regierung an, dass insbesondere die Motoren von Bergen Engines eine große militärische Bedeutung für Russland gehabt hätten und zu einer Stärkung der militärischen Stärke des Landes in einer Weise führen könnten, die eindeutig den norwegischen und alliierten sicherheitspolitischen Interessen zuwiderlaufe. Norwegen gehört der Nato an. Die Russen wiederum beteuerten, alles zu unternehmen, damit die Übernahme nicht gegen das nationale Sicherheitsgesetz Norwegens verstoße.
In Bayern geht es indes nicht um eine militärisch relevante Technologie, sondern um zivile Züge. In der kommenden Woche könnte sich zeigen, ob der bayerisch-britischschweizerisch-russische Wirtschaftskrimi Fahrt aufnimmt oder mit einer gütlichen Einigung rasch aufs Abstellgleis geschoben wird.
Wie die Verhandlungen ausgehen, gilt in Bahnkreisen als offen. Die Schweizer scheinen auf alle Fälle zu hoffen, dass auch in Deutschland Politiker auf den Zug aufspringen und Stadler beistehen.
Ein Gespräch zu den Bedenken steht an