Donauwoerther Zeitung

Zauber und Wut des ukrainisch­en Literaturs­tars

Leider gibt es auch für Andrej Kurkow selbst gerade viel Wichtigere­s als Romane und über seinen feinen neuen Krimi zu reden. Dabei führt der ja mitten hinein in eine andere russische Übernahme Kiews.

- Von Wolfgang Schütz

Mögen die Zeiten rasch kommen, in denen Andrej Kurkow wieder Romane schreiben kann. Zauberhaft eigenwilli­ge, am besten wieder wie „Picknick auf dem Eis“oder „Pinguine frieren nicht“, die ihn vor 20 Jahren bekannt machten, feine Geschichte­n, etwa von einem berufsmäßi­gen NachrufeSc­hreiber, aber mit charmanten Verschiebu­ngen in die Groteske, wie durch die herrliche Nebenfigur eines Pinguins als Mitbewohne­r.

Derzeit aber, so bekennt Kurkow, der nicht von ungefähr gefragt ist wie nie, in einem der vielen Interviews, die er in den sieben Sprachen, die er spricht, unentwegt gibt, sei ihm das unmöglich. Er, der in Russland geboren wurde und noch immer in seiner Mutterspra­che Russisch schreibt, aber seit früher Kindheit in Kiew lebt und nicht nur der weltweit erfolgreic­hste Schriftste­ller der Ukraine ist, sondern auch Präsident des Autorenver­bandes PEN im Land: Er kann derzeit schreibend nur direkt, in Reportagen, Artikeln und Essays, den Krieg zu verarbeite­n versuchen und Stellung beziehen.

Zum Beispiel: Russland müsse durch eisenharte Sanktionen zu Friedensve­rhandlunge­n gezwungen werden; und wer in einer solchen Situation fordere, keine Waffen in die Ukraine zu liefern, wie es einige deutsche Intellektu­elle ja wiederholt getan haben, spreche aus linkem Idealismus und nehme mehr Gewalt gegen die Ukrainer täglich in Kauf, mehr Hunger, mehr Deportatio­nen, mehr Tote –

durch Putins Russland, das ja bereits öffentlich bekannt habe, es gehe um nicht weniger als die Vernichtun­g der ukrainisch­en Identität. Er hoffe auf Europa, das für ihn für die Freiheit stehe, das nun aber auch erwachen und erwachsen werden müsse…

Einen Roman über den Konflikt hat er indes bereits geschriebe­n, das 2019 erschienen­e „Graue Bienen“, das im 2014 besetzten Donbass spielt. Und ein vor dem Krieg noch vollendete­r Roman ist von Andrej Kurkow nun auch in deutscher Übersetzun­g erschienen: „Samson und Nadjeschda“, Auftakt zu einer Krimi-Trilogie. Und obwohl dieser wieder fein erzählte Roman – in dem die typische Verschiebu­ng zur Groteske durch ein abgeschlag­enes Ohr geschieht, mit dem der Versehrte trotzdem noch hören kann, sogar durch die halbe Stadt getrennt – im Jahr 1919 spielt, spiegelt sich darin doch auch die gegenwärti­ge Krise.

Denn es ist das damalige Kiew, in das Andrej Kurkow führt, gerade in der dritten Welle von den Rotarmiste­n bestürmt mit dem Versuch einer russischen Übernahme. Der Krieg wirkt hier noch wie ein Bürgerkrie­g, mit Szenen zunehmende­r Gewalt auf offener Straße, in alle Lebensbere­iche einziehend­em Chaos und wachsender Verzweiflu­ng bei der Bevölkerun­g. Samson verliert dabei zunächst den Vater, dann sein Ohr, schließlic­h jede Lebensgrun­dlage, wird auf die in Anarchien wohl realistisc­h abenteuerl­iche Weise zum Ermittler – und gewinnt womöglich eine junge Frau namens Nadjeschda für sich, die für den Sozialismu­s glüht …

Immerhin: Beim Lesen des Romans gewinnt der Zauber die Oberhand über Trauer und Wut. Beim Blick in die Zeitung aber…

> Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda. Übs. Johanna Marx und Sabine Grebing, Diogenes, 368 S., 24 €

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Andrej Kurkow, 61. Foto: Annette Riedl, dpa

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