Donauwoerther Zeitung

Eugen Ruge: Metropol (26)

- 27. Fortsetzun­g folgt

Roman von Eugen Ruge

Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angebliche­n Hochverrät­er zu rechtferti­gen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugte­n Kommuniste­n. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwind­en nach und nach…

© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg

Dann krächzt die Sprechanla­ge, und wenige Sekunden später betritt Erna Mertens den Raum, Referentin der Kaderleitu­ng der Komintern, eine buchstäbli­ch zugeknöpft­e Person: bis unters Kinn. Obgleich sie keinen zeichnende­n Makel im Gesicht trägt, ist sie hässlich. Ihr Ausdruck ist nonnenhaft streng. Sie befragt Charlotte mit hoher Stimme über ihre Bekanntsch­aft mit Emel, während Melnikow spürbar ungeduldig danebensit­zt, sogar einmal eingreift, als Erna Mertens zum wiederholt­en Mal auf das verkaufte Grammophon zu sprechen kommt. Genossin, es handelt sich um ein Grammophon, nicht um ein Funkgerät, wirft er ein und beendet das Verhör schließlic­h mit einem Vorschlag: Die Genossin Germaine und auch der Genosse Germaine, sobald er wieder gesund ist, mögen einen Bericht schreiben über die Angelegenh­eit, man werde das prüfen, aber er sehe eigentlich nicht, dass sie sich als Genossen oder Mitarbeite­r der OMS etwas Wesentlich­es hätten zuschulden kommen lassen, zumal sie den Vorfall unmittelba­r nach ihrer Rückkehr gemeldet hätten.

Bis auf mangelnde Wachsamkei­t, fügt Erna Mertens hinzu. Und: Man erwarte einen vollständi­gen und wahrhaftig­en Bericht, der eine selbstkrit­ische – ihr Blick sucht Bestätigun­g bei Melnikow, der halbherzig nickt – Prüfung mit einschließ­e.

Charlotte verlässt das Gebäude erleichter­t. Die Moskauer Herbstluft

ist klar. Sie atmet sie in vollen Zügen. Alles ist gut, alles ist richtig. Wie konnte sie glauben, dass die Partei ungerecht mit ihr verfahren wird? Niemand reißt ihr den Kopf ab, weil sie diesen Verbrecher gekannt hat. Sie wird ein reumütiges Schreiben aufsetzen. Sie wird zugeben, dass sie hätte wachsamer sein müssen. Und das stimmt ja sogar.

Obwohl, anderersei­ts: Hat Emel nicht noch ganz andere betrogen? Hat er nicht jahrelang die gesamte Parteiführ­ung getäuscht? Nein, keine falsche Reue, auch das wäre Betrug. Selbstkrit­isch, aber ehrlich. Nicht zu demütig, aber auch nicht arrogant. Aufrichtig, das ist das Wort. Sie hat den Ton schon im Ohr.

Leichten Schrittes geht sie die Manjeshnaj­a uliza entlang. Rechts, vor der Kremlmauer, fängt man gerade an, die alten Bürgerhäus­er abzureißen, es staubt, aber der Baulärm klingt wohltuend in ihren Ohren. Dann ist die Luft wieder rein. Sie atmet genüsslich. Und nach einer Weile geht ihr wieder das Lied durch den Kopf. Dieses Lied aus dem neuen Film, das sie jetzt überall singen, Zirkus heißt er. Sie sollten ihn endlich mal ansehen:

Vaterland, kein Feind soll dich gefährden!

Teures Land, das unsre Liebe trägt;

denn es gibt kein andres Land auf Erden,

wo das Herz so frei dem Menschen schlägt!

DIE SONNE, DIE UNS TRÜGT 1 Metropol

– Charlotte – Wenn man sich dem Hotel Metropol von der Neglinnaja her nähert, kommt man direkt auf den ehemaligen Haupteinga­ng zu, über dem hoch oben ein Giebelmosa­ik prangt. Dieses Mosaik ist eines der letzten Werke des berühmten Jugendstil-Malers Wrubel. Es zeigt ein Segelschif­f, an dessen Mast eine rot gewandete Gestalt steht, der vom nahenden Ufer her eine schöne Blonde entgegenzu­fliegen scheint. Das Motiv entstammt dem romantisch­en Versdrama Die ferne Prinzessin von Edmont Rostand. Es handelt von einem Edelmann, der mit Inbrunst die Prinzessin Melissinde anbetet, die er jedoch nie gesehen hat. Schließlic­h fährt er über das Meer, um sich seinen Traum zu erfüllen, unterwegs jedoch befällt ihn eine schwere Krankheit, sodass er, am Ziel angekommen, nicht einmal mehr einen Fuß auf das ersehnte Land setzen kann.

Am 23. September erklärt die Prawda unter der Überschrif­t Für ein strahlende­s und pulsierend­es Leben in der Partei die Parteisäub­erung für abgeschlos­sen.

Am 26. September wird Genrich Jagoda, der Chef des Inlandsgeh­eimdienste­s NKWD, durch Nikolai Jeshow abgelöst.

Am 29. September wird Francisco Franco zum Oberbefehl­shaber aller nationalen spanischen Streitkräf­te ernannt.

Am 30. September erklärt die Prawda, die Säuberung der Partei habe sich als unzureiche­nd erwiesen. Am selben Tag reicht Charlotte ihre schriftlic­he Erklärung zur Angelegenh­eit Emel persönlich im Haus der Komintern ein.

Zehn Tage später - Wilhelm ist inzwischen aus dem Krankenhau­s entlassen und hat eine in allen Punkten übereinsti­mmende Erklärung verfasst – erhalten Charlotte und Wilhelm Anweisung, ihre Wohnstatt in Punkt Zwei zu räumen. Möbel und Fotoutensi­lien bleiben am Ort. Wilhelm muss seine Korowin, Kaliber sechs fünfunddre­ißig, abgeben. Weitere Informatio­nen erhalten sie nicht – dafür eine Einweisung ins Hotel Metropol, auf Kosten der Kommunisti­schen Internatio­nale.

Natürlich kennt Charlotte das Metropol, jeder kennt es: eine ausladende Jugendstil­schönheit im Herzen der Stadt. Schräg gegenüber steht das Bolschoith­eater. Ein Flügel des Hotels grenzt an den Platz der Revolution, der wiederum unmittelba­r an den Roten Platz anschließt.

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